Humboldt-Universität zu Berlin

„Ich dachte, Lehrer wird es immer geben“

Als der spätere Regierende Bürgermeister Klaus Schütz 1945 verwundet aus dem Lazarett zurück kam, gab ihm die Universität einen Halt.

Klaus Schütz
Foto: Heike Zappe

Klaus Schütz

Klaus Schütz wurde am 17. September 1926 in Heidelberg geboren. Von seinem zehnten Lebensjahr an wuchs er in Berlin auf. In den letzten Kriegstagen wurde der 18-Jährige in Italien schwer verwundet, sein rechter Arm blieb gelähmt. Schütz studierte von 1946 bis 1949 an der Humboldt-Universität Geschichtswissenschaften und Germanistik. Von 1967 bis 1977 war er Regierender Bürgermeister von Berlin, anschließend vier Jahre Botschafter in Israel.

 

Herr Schütz, Sie wurden 1944 als Flakhelfer eingezogen. Sie wurden schwer verwundet. Wie stellten Sie sich Ihr weiteres Leben vor? 

Ich kam im Herbst 1945 aus der Gefangenschaft, aus dem Lazarett. Zu der damaligen Zeit war man durch die Kriegsereignisse, die Bombardierungen und das ganze Brimborium, was dazu gehörte aus der nationalsozialistischen Zeit, in einem bestimmten Denkprozess drin. Da habe ich noch nicht über meine Zukunft nachgedacht. Aber ich dachte, Lehrer wird es immer geben, Schule wird es immer geben. Also entschied ich mich für Geschichtswissenschaften und Germanistik.

Sie sind in Heidelberg geboren und mit zehn Jahren nach Berlin gekommen. Ihr Vater war Rechtsanwalt.

Meine Mutter war alleinstehend, und sie war außerordentlich konzentriert auf mich. Ich war auch teilweise noch in Kinderheimen, bevor ich in einer Familie in Pension ging.

Mussten Sie neben dem Abitur bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um in Ostberlin studieren zu können?

Ich durfte nicht aus einer wohlhabenden Familie kommen. Ich war in der Tat ein armes Luder mit einem Reifezeugnis. Die Entscheidung für einen Lehrerberuf habe ich nicht bereut. Ich habe sie bloß nicht zu Ende geführt, aber ich war gerne an der Universität. Wir siezten uns, obwohl wir alle eine Kriegsgeneration waren, Frauen wie Männer. Wir waren ja auch nicht sehr schick angezogen, meist hatte man seine abgetragenen Militärhosen an. Ich entsinne mich, dass wir in einer gewissen Disziplin saßen, vor den Professoren.

KS Archiv
Foto: Archiv Klaus Schütz

Was ging in Ihnen vor, als der Krieg vorbei war und Sie sich selbst die Zukunft neu gestalten mussten?

Ich bin am 28. April 1945 auf dem Rückzug von Italien von einer Partisanengruppe angeschossen worden. Ich lag dort erst einmal neben der Straße und war der Meinung, ich sei tot. Ich dachte an meine Mutter und dass es wohl vorbei sei; aber dann kamen italienische Partisanen und brachten mich in eine Schule, wo man die Verletzung behandelt hat. Von dort aus bin ich in ein Lazarett, das von der englischen oder neuseeländischen Militärverwaltung verwaltet wurde. Ich habe keine Vorstellungen gehabt, was eigentlich los war. Wir hatten in Italien keine Zeitungen, wir hörten nur schreckliche Gerüchte von der Ostfront über die Behandlung von Frauen. Ich hatte den Eindruck, alles ist kaputt, und was jetzt kommt, ist völlig ungeklärt. Ich dachte, du versuchst, etwas zu studieren, dann wird man sehen, was beruflich möglich ist.

Als Nachgeborener kennt man die Filmaufnahmen nach der Kapitulation. Berlin muss depressiv gewirkt haben, alles kaputt.

Im Herbst 1945 habe ich nicht das Berlin gesehen, das ich heute in den Filmen der Amerikaner über die zerstörte Stadt sehen kann. Bei mir gab es keine Barrikaden. Ich wohnte in Wilmersdorf bei meiner Mutter, ich fühlte mich wohl und war gut untergebracht, so dass ich eigentlich viel zu Hause war. Ich hatte nicht das Gefühl, in einer völlig zerstörten Stadt zu leben.

War das ein normales Studieren für Sie?

Für mich damals ja. Ich fuhr mit dem Fahrrad hin. Fahrrad war etwas Besonderes. Man musste aufpassen, dass man nicht bestohlen wurde. Meine Mutter arbeitete bei der englischen Besatzungsmacht in der Küche und kam deshalb immer mit guten Suppen nach Hause. Ich habe nie den Elendszustand an der Universität in Erinnerung. Gemessen an der allgemeinen Lage, in der wir damals leben mussten, gemessen an dem Hunger im Land und in der Stadt und gemessen an den sonstigen Schwierigkeiten, habe ich mich an der Universität ohne Schwierigkeiten als Student gesehen.


Foto: Bundesarchiv

Spürten Sie, dass der Krieg Lücken im Lehrkörper gerissen hatte?

Wir hatten eine Reihe von außergewöhnlich guten Professoren. Ich bin nicht unzufrieden gewesen mit dem, was ich dort gehört habe. Die Vorlesung von Professor Alfred Meusel, einem Historiker, war für mich wichtig. Der größte Teil der Professoren lebte in Westberlin und fuhr rüber. Als die Stadt zerschnitten wurde, bis hin zur Mauer, habe ich mir mehr Gedanken über diesen Lehrkörper gemacht. Die sind dann zum größten Teil an der Freien Universität untergekommen.

Nun ist Geschichte ein Fach, wo möglicherweise durch die ideologische Weltsicht des jeweiligen Professors viel interpretiert wurde. Hatten Sie den Eindruck, dass im sowjetischen Sektor die Sicht Stalins vermittelt wurde?

Nein. Für den ein oder anderen der Professoren war es sicherlich nicht einfach. Sie hatten unter dem Nationalsozialismus anderes gelernt. Die Zentralverwaltung der Sowjetzone mischte sich wohl an der Spitze ein, aber nicht so, dass man das als Student merkte. Das ist kam später, als ich für den Studentenrat kandidierte. Da bildeten sich Cliquen mit netten Damen und netten jungen Burschen, wir hatten unseren Spaß, trafen uns auch ein bisschen. Aber wir waren nicht besonders Professoren-kritisch.

Im April 1946 haben sich Ost-KPD und Ost-SPD zur SED vereinigt. Dieser starke Konflikt war sicherlich auch für Sie wahrnehmbar als aktiver sozialdemokratisch geprägter Mensch. Wirkten solche politischen Prozesse in den Unibetrieb hinein?

Ich bin ja in die SPD eingetreten wegen der Abwehr der Zwangsvereinigung. Ich bin politisch sehr interessiert gewesen, mehr durch die Lektüre des Tagesspiegels, ging zu Parteiversammlungen. Dann kam die Wucht dieser Abwehrkämpfe der Sozialdemokraten gegen die Zwangsvereinigung. Die Sozialdemokraten, das war damals das, was noch von vor 1933 übrig geblieben war. Die waren interessiert, junge Leute zu gewinnen. Ich habe deshalb eine außergewöhnliche Karriere gemacht. In ein-zwei Jahren war ich schon Mitglied des Berliner Vorstandes der Sozialdemokraten und Vorsitzender der Jungen Sozialisten. Das ging ganz automatisch, wenn man nicht auf den Mund gefallen war und sich durchsetzen wollte mit seinen eigenen Ideen.


Foto: Deutsche Fotothek

Merkte man etwas von dem Konflikt im Unibetrieb oder blieb die Politik draußen?

Nichts. Ich habe zwar zur Vereinigung sozialdemokratischer Studenten gehört, aber ich war nicht so am universitären Bereich interessiert. Als man einen Westkandidaten für eine Nachwahl in der Philosophischen Fakultät suchte, der die Stimmen sammeln würde gegen den einzigen kommunistischen Kandidaten, hatte ich die besten Stimmen, die ich jemals in Wahlen bekommen habe.

Sie haben sich im Studentenrat aktiv eingebracht?

Man muss das nüchtern sehen. Ich wurde 1948 gewählt. Der Rektor der Universität hat die Wahl anerkannt, so war es im Gesetz vorgeschrieben. Als ich in den Studentenrat kam, waren drei Studenten aus der Universität relegiert worden – und der Studentenrat beschloss mit meiner Stimme, sich aufzulösen, so dass ich gerade gewählt war, mich aber gar nicht mehr mit Universitätsdingen beschäftigen konnte.

Damals war ich schon Mitglied des Landesvorstandes der SPD. Ich ging zu einer Landesvorstandssitzung der Berliner SPD, und da saß Ernst Reuter, der große Bürgermeister, und fragte, ob ihm mal erklären könnte, was eigentlich an der Universität so los ist. Da habe ich gesagt: Es geht darum, dass Kommunisten die westlich Orientierten rausschmeißen, und deshalb kommen wir jetzt nach drüben und verlangen eine eigene Universität in Westberlin.

Wie reagierte Ernst Reuter?

Er hat gesagt: Seid ihr völlig verrückt? Wie stellt Ihr Euch vor, dass man eine Universität aus dem Nichts schafft, aus dem Boden stampft? Und da haben wir ihm gesagt, wir können gar nicht anders, als in Westberlin nach einer Universität zu rufen. Wir müssen sie fordern von Ihnen. Und dann ist er losgegangen und hat sie gegründet. Aber er ist erst einmal mit seiner eigenen Universitätserfahrung rangegangen, im Ausland und im Inland. Dann haben die Amerikaner die finanziellen Sachen ermöglicht, und er war an der Spitze.


Foto: Heike Zappe

Warum war eine Reform an der Humboldt-Universität nicht möglich oder was war tatsächlich der Konflikt?

Wir konnten keinen Ansatz einer Reform sehen. Deshalb sind wir auch zurückgetreten, weil die Kontrolle durch die Zentralverwaltung so streng und so rigide war. Es war klar, wir müssen weg von dieser Universität.

Was haben Sie damals mitgenommen für den Aufbau der Freien Universität?

Ich rechne nicht zu denjenigen, die sich als Schöpfer der Freien Universität sehen. Ich gehörte zwar zu den Führungsgremien; tatsächlich bin ich sogar erst ein Semester später reingekommen. Aber ich bin dann auch nie ein richtiger Student dort geblieben.

War die FU eine Art Spiegelbild der Humboldt-Universität, mit politischer und Wissenschaftsfreiheit?

Das habe ich so gesehen, aber ich hatte mich schon etwas entwöhnt gehabt. Es liefen bei mir schon so viele andere Sachen, so dass ich eigentlich nicht mehr bereit war, mich dafür viel zu engagieren. Ich war wissenschaftlicher Hilfsassistent am Institut für politische Wissenschaft, das später zur Freien Universität gehörte.

Abbildung: Archiv Klaus Schütz

Abbildung: Archiv Klaus Schütz

In diese Zeit fällt ja auch die Währungsreform ...

Nein, in diese Zeit fällt die tatsächliche, administrative Spaltung der Stadt Berlin; und die einzige große Veranstaltung, die ich an der Humboldt-Universität überhaupt mitgemacht habe, war eine Veranstaltung, wo einige Leute aus dem Ostmagistrat kamen und erklärten, warum man diesen Weg gegangen war. Ich machte bösartige Zwischenrufe, aber mir ist nichts passiert.

Hätte man sich die Spaltung Deutschlands ersparen können, wenn man sich damals mehr Zeit genommen hätte, um das demokratisch auszudiskutieren?

Im Rückblick muss ich sagen, hatte ich einen tief verwurzelten Respekt vor der Stärke des Kommunismus. Es war für mich klar, dass es keine Nebenlösungen oder Reformen geben würde. Noch kurz vor der Wiedervereinigung 1989 saß ich einmal mit Willy Brandt zusammen, und wir begriffen nicht, was da eigentlich los ist, dass der Kommunismus zusammenbrach. Für ihn wie für mich war das eine Art Lebenserfahrung. Es ist eine der Grunderkenntnisse für mich, dass ein System im Grunde genommen für sich selbst existiert.

Wie ernst nahmen Sie Ihr Studium?

Ich hatte ein ziemlich lockeres Studentenleben. Ich war weitgehend in der SPD engagiert, und kämpfte dort als Vorsitzender der Jungsozialisten. Ich habe keinen Abschluss mehr bei der Universität gesucht, weil ich das nicht mehr für notwendig hielt. Eines Tages saß ich im Berliner Parlament und kurz danach im Bundestag als ziemlich junger Mann und merkte, das Studium brauche ich nicht. Für mich war die Universität in den ersten Jahren, von 1946-48 mehr ein politischer Ort als ein wissenschaftlicher.

Auch wenn Sie sich politisch eher außerhalb der Uni orientierten, was hat Ihnen das Studium an der Humboldt-Universität vermittelt?

Ich habe davon profitiert, mit einer Vielzahl von intelligenten, jungen Mitstudenten zusammengewesen zu sein. Ich habe viele Menschen kennen gelernt, die ich auch später in vielen unterschiedlichen Positionen oder in Freundschaften wieder getroffen habe. Wir redeten uns immer mit „Kommilitonen“ an, wie es seit 1968 nicht mehr üblich war.


Foto: Heike Zappe

So kurz nach dem Krieg im ausgebombten Berlin war es sicherlich schwierig, Studienmaterialien zu bekommen?

Ich bin mit einer Reihe junger Studenten mehrmals mit Lastwagen in die Umgebung von Berlin gefahren, wo ein großer Teil der Bibliothek der Universität wegen der Kriegsschäden verlagert war. Wir sind mit großen Bücherkolonnen zurückgekommen. Ich war schon damals ein Büchernarr, aber ich konnte diese Narretei nicht befriedigen, denn erstens hatten wir nicht das Geld, und wir hatten auch unter uns wenig Austausch von Büchern.

Welche Lehrveranstaltungen sind Ihnen in Erinnerung?

Ich habe mich an Wettbewerben beteiligt: Man konnte an der Technischen Universität und an der Humboldt-Universität seine Rednerkünste darbieten. Aber das habe ich mehr als Angeberei gemacht, als dass ich damit etwas bewegen wollte.

Wie haben Sie Ihr Studium finanziert?

Ich hatte ein Stipendium vom „Telegraf“, einer sozialdemokratischen Massenzeitung, dessen Herausgeber Arno Schulz war. Und meine Mutter unterstützte mich.

Hatten Sie Vergünstigungen in der Stadt Berlin, weil Sie Student waren?

Ich hatte Vergünstigungen durch meine Kriegsbeschädigung, ich konnte kostenfrei auf den städtischen Bussen und Straßenbahnen fahren.

Ihre Tochter arbeitet im Centrum Judaicum. Stammen Sie selbst aus einer jüdischen Familie?

Nein. Ich hatte vor meiner Zeit als Regierender Bürgermeister, als ich Senator für Bundesangelegenheiten war, engen Kontakt zur hiesigen Jüdischen Gemeinde. Ich war befreundet mit Heinz Galinski, dem damaligen Vorsitzenden. Nach meinem Rücktritt als Regierender Bürgermeister wurde ich von Hans-Dietrich Genscher, einem guten alten Freund, gefragt, ob ich nach Israel gehen würde als deutscher Botschafter. Dann habe ich mich erst mit Judentum, Regeln und Riten intensiv beschäftigt. Ich bin in Israel so offen und freimütig empfangen worden, bis in die obersten Zentren der politischen und wissenschaftlichen Welt. Dann ergab es sich, dass meine Tochter ihren späteren Mann bei Gershom Scholem, dem großen Religionsphilosophen, kennen lernte.

Haben Sie Ihre Frau an der Uni kennen gelernt?

Meine Frau war Sekretärin am Institut für politische Wissenschaften. Sie ist eine Pfarrerstochter. Dadurch habe ich einen stärkeren Ruck in die Evangelische Kirche gemacht. Aber wir haben zusammen unsere Beziehungen zu Juden in Berlin und Israel ausgebaut. Und ich bin dadurch, dass ich 1949/50 in Amerika, in Harvard, war, das erste Mal mit der Emigration in Kontakt gekommen. Da hat man hier schon den einen oder anderen gesehen, der zurück gekommen ist, die wenigsten sind zurück gekommen.

Foto: Heike Zappe

Foto: Heike Zappe

Haben Sie einen Rat für die heutigen Studierenden, die an einer so traditionsreichen Universität studieren?

Wissen Sie, ich sympathisiere mit den Jungen, weil ich das Gefühl habe, es ist eine allgemeine Unsicherheit da. Und da hilft eine Universität eigentlich nicht, diese Unsicherheit zu beseitigen. Eine Universität könnte die gleiche Aufgabe versehen, die sie an meiner Person versehen hat, nämlich, dass man einen Orientierungspunkt bekommt, an dem man sich festhält, wo man dazu gehört, wo man eine Gemeinschaft hat.

Das Gespräch führten Jörg Wagner und Heike Zappe

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