Humboldt-Universität zu Berlin

„Meine Trauer ist tiefer als der Hass.“

Ein Gespräch mit dem Arzt und Schriftsteller Hans Keilson.

Ausschnitte aus dem Video-Interview

 

Das Interview in voller Länge

Dr. Dr. h.c. Hans Keilson (1909-2011) war einer der letzten noch lebenden Autoren, dessen Bücher von den Nationalsozialisten in Deutschland verboten wurden. Der jüdische Mediziner und Autor, der einst an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität studierte, emigrierte 1936 in die Niederlande, wo er bis zuletzt wohnte. Hans Keilson hatte ein knappes Jahrhundert deutscher Geschichte am eigenen Leib erlebt, in Deutschland und im Exil. Im November 2008 kehrte der 98-Jährige noch einmal an diese Universität zurück, wo er für sein Lebenswerk mit der Universitätsmedaille geehrt wurde.

Herr Keilson, aus welchen familiären Verhältnissen stammen Sie?

Ich bin aufgewachsen in Bad Freienwalde an der Oder. Ich war das dritte Kind meiner Eltern. Mein Vater hatte ein kleines Manufakturwarengeschäft. Er wurde im Ersten Weltkrieg als Soldat eingezogen und bekam das Eiserne Kreuz. Dafür ist er dann in Auschwitz ermordet worden, durch Hitler.

Sollten Sie später einmal in das Geschäft Ihres Vaters einsteigen?

Nein, im Gegenteil. Der Bruder meines Vaters war ein bekannter Arzt in Hamburg. Es war eine kleine Verabredung, dass ich seine Praxis übernehmen sollte. Arzt wollte ich gern sein, aber die Praxis mochte ich nicht übernehmen.

Hatten Sie damals bereits schriftstellerische Ambitionen?

Am Gymnasium hatte ich von Hermann Hesse den „Demian“ gelesen. Ich war gefesselt von ihm und habe ein kleines Essay darüber geschrieben, wofür ich einen Preis bekam. Das war meine erste literarische Erfahrung. Aber dass ich je Gedichte und Romane schreiben würde, das hatte noch keine so große Rolle gespielt.

Hans Keilson

Sie entschieden sich für Berlin als Studienort. Haben Sie sich schnell zurechtgefunden mit dem quirligen Leben in Berlin?

Ich kriegte Freunde, die genauso alt waren wie ich, jüdische und nicht jüdische Freunde. Das Leben nahm einen neuen Lauf. Die Ausbildung als staatlich geprüfter Turn-, Sport- und Schwimmlehrer war sehr wichtig für mich. Ich wurde Mitglied des jüdischen Sportvereines und lief bei dem Staffellauf Potsdam-Berlin 500 Meter auf dem Kaiserdamm.

Ihre Schwester studierte zur gleichen Zeit Jura in Berlin und brachte Sie mit der Jazzmusik in Berührung. Wie kam es dazu?

Meine Schwester hatte einen Bekannten, der für seine Drei-Mann-Kapelle einen Trompeter suchte. Ich nahm Stunden und lernte Trompete blasen. Nach ein paar Monaten spielte ich auf allen großen Bällen in Berlin. Ich war kein großer Trompeter, aber doch brauchbar. Und ich habe mich sehr amüsiert dabei.

Sie studierten in den Jahren 1928 bis 1934 Medizin an der Berliner Friedrich-Wilhelms- Universität. Welchen Ruf hatte sie damals? Fast 20 Nobelpreisträger hatte die Universität zur Zeit Ihres Studienbeginns bereits.

Also ich glaube nicht, dass mich die große Wichtigkeit und Würde der Universität stimuliert hat durch die Nobelpreise. Ich wollte das Leben als Student: Vorlesungen hören, ein völlig neues Fach lernen, Anatomie, Krankheitslehre – das war viel interessanter als die Preise. Das Leben als Student habe ich voll genossen, ohne Frage.

Gab es an der Universität Persönlichkeiten, die Sie geprägt haben?

Ich habe Sauerbruch in den Vorlesungen gehört. Das war natürlich ein Erlebnis. Seine Assistenten auch, den Internisten Bergman und Rößler, den Anatom.

Noch während Ihres Medizinstudiums, im Jahr 1933, veröffentlichten Sie Ihren ersten Roman „Das Leben geht weiter“. Hatten Sie Vorbilder?

Wie gesagt, ich war sehr fasziniert von Hesse. Durch einen Bekannten lernte ich auch Thomas Mann kennen, den ich sehr schätzte. Er schrieb mir später einmal einen Brief. Diese beiden waren damals meine „Götter“. Aber ich habe versucht, meinen eigenen Stil zu schreiben. Dennoch – als ich mich 1943 in Holland von meinem Vater verabschiedete, sagte er zu mir: „Hans, vergiss nicht, dass du Arzt bist“. In meinem eigenen Leben und dem meiner Eltern stand das Arztsein im Mittelpunkt, nicht mein Schreiben.

Hat sich das später geändert?

Nein, wenig. Mein Roman „Der Tod des Widersachers“ ist in Deutschland kaum beachtet worden. Der Roman hatte mit der amerikanischen Ausgabe einen großen Erfolg gehabt. Die „Times“ hatte eine blendende Kritik veröffentlicht: Es wäre das Buch, um den Nationalsozialismus und Hitler zu begreifen. Es stand auf der Bestellerliste in Amerika. Aber in Deutschland hatte es beinahe keiner gelesen.

Hans Keilson: Romane und Erzählungen

Sie durften 1934 Ihr Medizinstudium noch beenden, weil Ihr Vater im Ersten Weltkrieg Frontkämpfer war und Sie eine entsprechende Eintragung in Ihrer Studienakte hatten. Welche Anzeichen von Unheil nahmen Sie nach der Machtübernahme Hitlers wahr?

Meine erste Frau war eine sehr angesehene Graphologin, eine Schriftkundlerin. Als sie zum ersten Mal die Schrift von Adolf Hitler gesehen hatte, sagte sie zu mir: „Der zündet die Welt an!“ Sie hat früher die Situation eingeschätzt als ich, niemand konnte sich vorstellen, was mit den Juden geschehen würde. Genauso wie man sich nicht vorstellen konnte, dass man in Deutschland einen Krieg beginnt, den man verliert. Welcher Politiker tut das? Das Wesen der Politik ist doch, dass man untersucht, welches Risiko die Schritte, die man unternimmt, mit sich bringen. Es ist eigentlich unvorstellbar, dass erwachsene Menschen etwas beginnen, was sie nicht bezahlen können.

Wie konnten sich der Faschismus und der Antisemitismus sich in Deutschland so ausbreiten?

Unterschätzen Sie den Einfluss des Nationalsozialismus nicht! Der hatte nicht nur die Juden zum Feinde. Er hatte sein eigenes Volk zum Feinde.

Sie waren 1934 einer der letzten Juden, die in Deutschland ihr ärztliches Staatsexamen ablegen konnten. Im gleichen Jahr erhielten Sie Berufs- und Publikationsverbot. Als was haben Sie dann aber gearbeitet?

Nach dem Studium wurde ich Lehrer an sechs jüdischen Schulen in Berlin. Ich war einer der wenigen jüdischen Sportlehrer hier. Ich hatte voll zu tun.

Hans Keilson

Im Mai 1933 brannten auf dem Opernplatz vor der Universität die Werke deutscher Schriftsteller. Gab es Widerstand gegen die Bücherverbrennung?

Nein.

Können Sie das erklären?

Ja. Ich verkehrte damals in einem Kreis von Literaten, Juden und Nichtjuden waren dabei. Man war innerlich darauf vorbereitet, was geschehen konnte. Ich war nicht überrascht.

Warum leistete niemand Widerstand?

Angst hat immer eine große Rolle gespielt. Auch bei den Leuten, die im Widerstand waren. Die haben gewusst: Hiermit beginnt ein Abschnitt der deutschen Geschichte, der eine Katastrophe werden kann – nicht nur für die Juden, auch für die Deutschen.

Haben Sie, als die Juden ausgegrenzt wurden aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben, Solidarität gespürt?

Es gab natürlich Freunde, die Solidarität zeigten, die aber natürlich auch durch die Angst gehemmt waren, sich in ihrem Beruf zu sehr zu exponieren. Damals herrschte die SS, die Spionage. Sie dürfen nicht vergessen: Alles geschah nach einem verlorenen Ersten Weltkrieg, nach einer Änderung der Verfassung, aus einem Kaiserreich wurde eine Republik. Auch das war schon schwierig, einer Republik zu dienen. Die Rechten waren noch immer königstreu.

Wie hatten Sie sich Ihr Berufsleben nach dem Studium vorgestellt?

Anscheinend hatte ich doch damals schon die Gewissheit, dass in meinem Leben eine Periode des Entrinnens angebrochen war. Wie lange diese dauern würde und dass sie mich zwingen würde, Deutschland zu verlassen, wusste ich nicht.

Reisepass von Hans Keilson

Hatten Sie nach dem Krieg die Absicht, nach Deutschland zurück zu kommen?

Nein.

Deutschland war kein Thema mehr?

Die deutsche Sprache habe ich nicht verleugnet, aber in Deutschland, das so viel mitgemacht hat, wo ich es selbst so schwer hatte, um das auch noch einmal mitmachen zu müssen, dazu hatte ich den Mut und den Optimismus nicht.

Dennoch ist die deutsche Sprache Ihr Ausdrucksmittel geblieben.

Meine Frau hat mir damals gesagt: „Du darfst die Sprache nicht aufgeben.“ Ich habe in den ersten Jahren in den Niederlanden auch holländische Bücher publiziert, über Comenius und Erasmus. Zugleich begann ich damals, deutsche Gedichte unter dem Namen Alexander Kailand zu schreiben.

Hans Keilson: Das Leben geht weiter

Sie haben Ihre Eltern in Auschwitz verloren, haben im Krieg sehr viel Leid gesehen ...

Diese unmenschliche Grausamkeit, dass man Kinder umbringt und alte Menschen. Dass Göbbels seine eigenen Kinder umbringt – unvorstellbar für mich! Als Mensch, nicht als Jude. Und diese Zeit habe ich erlebt. Unglaublich.

Als die Nazis auch in Holland einmarschierten und Sie auch dort als Jude nicht mehr sicher waren, haben Sie im Untergrund gekämpft und nach dem Krieg haben Sie mit traumatisierten Waisenkindern gearbeitet.

Während des Krieges habe ich für eine holländische illegale Widerstandsgruppe gearbeitet, die jüdische Kinder in Pflegefamilien untergebracht hat. Die Eltern dieser Kinder wurden meistens in Konzentrationslager deportiert. Viele kamen nicht zurück. Ich habe mit den Kindern gearbeitet, während sie im Versteck waren. Ich wusste nicht, was mit ihren Eltern geschah und ob sie sie wieder sehen würden nach dem Kriege. Das war meine Lehrarbeit. Das ist keine jüdische Arbeit, das ist eine menschliche Arbeit.

Wie können Sie diese existenziellen Erlebnisse verarbeiten ohne zu hassen?

Meine Trauer ist tiefer als der Hass. Außerdem habe ich erlebt, wohin der Hass führen kann. Wenn Sie die Reden von leitenden Nationalsozialisten lesen, dann sehen Sie, wie sie sich selbst kaputt gemacht haben mit ihrem Hass. Der Hass hat sie ja nicht zum Siege geführt. Er ist ein Mittel, sich selbst umzubringen.

Hans Keilson

Was würden Sie als Ihr Lebenswerk bezeichnen?

Ich habe versucht, das, was mich interessiert und was mir Freude macht, zu bearbeiten. Ich habe gern geschrieben, ohne große Ansprüche an mich selbst zu stellen. Ich habe nichts getan, um Geld zu verdienen oder um Preise zu kriegen.

Welchen Rat möchten Sie den jungen Menschen mit auf ihren Weg geben?

Spontan würde ich sagen: Versuche, den Umständen, die Dein Leben zu formen trachten, eine gesunde Kritik entgegenzusetzen. Das ist ja auch das Wesen der Demokratie – dass man sie kritisch betrachtet.

Vielen Dank für das Gespräch.

Peter Göbel und Heike Zappe

Das Interview entstand im November 2008.

Fotos: Heike Zappe

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