„Das hatte etwas Verwunschenes, Dornröschenmäßiges“
Frank Castorf (*1951 in Berlin) ist Regisseur und Intendant der Volksbühne Berlin. Sein Vater war Binnenhandelskaufmann, seine Mutter Modezeichnerin. Nach der Schule absolvierte er von 1969 bis 1970 eine Ausbildung zum Facharbeiter für Betriebs- und Verkehrswesen bei der Deutschen Reichsbahn. Nach dem Wehrdienst bei den Grenztruppen der NVA an der Westgrenze der DDR studierte er von 1971 bis 1976 Theaterwissenschaft bei Ernst Schumacher, Rudolf Münz und Joachim Fiebach an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Foto: Heike Zappe
Frank Castorf, als Sohn eines Eisenhändlers haben Sie sich für Theaterwissenschaften interessiert. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Studienwahl?
Ach, es war nicht leidenschaftlich, war auch nicht dramatisch. Meine Eltern waren befreundet mit einem Musikwissenschaftler. Der sagte, Theaterwissenschaften könnte man ja studieren.
Welche Vorstellungen hatten Sie von solch einem Studienfach?
Das Theaterstudium war vielleicht etwas, wo man das Gefühl hatte, dass es relativ entspannt sein könnte. Politisch, was es ja auch war, war es wie eine Verrätselung von Sachen, die man aussprechen konnte – was woanders sicher schwerer war. Vielleicht hatte es auch den Status der Besonderheit durch den Aufnahmemodus, wo nur wenige Studenten jeweils immatrikuliert wurden. Die Entscheidung war relativ zufällig.
Hatten Sie besondere Vorkenntnisse oder Erfahrungen?
Abgesehen von Brecht und von bestimmtem Schulstoff, den ich gelesen hatte, war ich nicht musisch geprägt. Aber als 16-jähriger Schüler habe ich martialische Stücke in verschiedenen Theaterzirkeln aufgeführt. Und dann hatte ich mir Ernst Schumacher [Dozent an der Humboldt-Universität – d. Red.] als Kritiker angelesen, über die ersten dramatischen Versuche Brechts. Das schien mir ein Ort der Anbindung zu sein.
Erinnern Sie sich an die gesellschaftlichen Umstände dieser Zeit?
Es war eine Zeit – die ja für viele eine Aufbruchzeit ist – in den 60er Jahren, wo man nicht unbedingt real dort gelebt hat, wo man tatsächlich gelebt hat, nämlich in der DDR. Ich konnte immer sagen: Ich lasse mich auf die Spielregeln nicht ein, ohne weggehen zu wollen. Ist natürlich einfach, wenn man 23 Mark für eine Wohnung bezahlen muss und 45 Pfennige für ein Pils.
Worin fanden Sie sich zwischen diesen Welten am ehesten wieder?
Das Wichtigste damals für mich war die Musik, die eine Spur von Freiheit signalisierte. Es war die Dubcek-Zeit. Ich habe Tschechisch gelernt in der Schule; insofern hatte ich Verbindungen dahin, wo man vermutete, dass es ein System gibt, wo Gerechtigkeit herrscht.
Hatten Sie eine liberale Kindheit?
Es war ein sehr einfaches Aufwachsen, ein triviales Kleinbürgertum. Einerseits konnte ich relativ verwahrlost und auch beschützt groß werden. Man hat halt als Gossenkind unter anderen Gossenkindern gelebt; nicht dramatisch und auch nicht im Zille-Sinne, aber in einer Gemeinschaft.
Da hätten Sie auch Ihren Vater im Eisenhandel unterstützen können?
Meine Eltern bedrängten mich, dass ich Abitur machen soll, also den Bildungsweg, den sie selbst unterbrochen hatten durch den Krieg. Und da ist man nach vorne gestoßen worden. Das war anstrengend.
Foto: Heike Zappe
Hatten Sie seinerzeit schon ein politisches Interesse entwickelt?
Bei meiner Großmutter lag der erste Band vom „Kapital“ von Marx. Volontaristisch hatte es irgendwo so gewisse Verwertungstreffer, als Zehn- oder Elfjähriger, und eigentlich war das ganz befreiend.
Ihre erste Bewerbung an der Universität war erfolglos. Mit welcher Begründung wurden Sie abgelehnt?
Es war einfach die Empfehlung, ich solle mich noch mal bewerben. Ich war zu jung, war 17, damals in der elften Klasse, hatte meine Einberufung zur Armee, bin zurückgestellt worden und habe mich dann noch mal beworben.
Zuvor absolvierten Sie eine Ausbildung bei der Deutschen Reichsbahn. Danach begann die Armeezeit bei den Grenztruppen der NVA. Hatten Sie keine Angst, in eine Situation zu gelangen, in der der Schießbefehl für Sie relevant werden würde?
Ich hatte nie Angst. Vielleicht hat man bei der Herkunft aus einer kleinbürgerlichen Familie auch eine andere Art des Überlebenkönnens? Auch mit der Brutalität, rechtzeitig zu erkennen, in welcher Richtung Kräftefelder sich verändern. Das ist eine instinktive Sache.
Aber die Vorstellung, an der Grenze auf einen Flüchtenden schießen zu müssen, hat Sie nicht umgetrieben?
Die Leute haben mich gefragt: Sie haben eine Waffe, im Notfall müssen Sie schießen, das wissen sie? Ich wusste das. Ich habe am Ratzeburger See gestanden und wäre auch nicht auf den Gedanken gekommen, über den 1,20 Meter hohen Stacheldrahtzaun zehn Meter zum See zu gehen und rüber zu schwimmen. Es war tatsächlich ein anderes Land. Ich habe runter geguckt nach Lübeck, von der Anhöhe, und es war eine andere Welt.
Das Foto zeigt den Großteil des Seminars in Kostüm und Maske der
angesprochenen Studioinszenierung des Regisseurs Horst Hawemann "Die
seltsame Namenstagsfeier im Jahre 1919" von Alexander Serafimowitsch. Das
Foto ist aus dem Jahre 1973. Frank Castorf in der Mitte im weißen Hemd.
Foto: privat
An der Studentenbühne haben die Studierenden Stücke selbst inszeniert. Welches ist Ihnen besonders in Erinnerung?
Wir haben „Die seltsame Namenstagsfeier im Jahre 1919“ von Alexander Serafimowitsch aufgeführt. Die üblichen Stücke, da wo sich Bürgertum und Kleinbürgertum treffen, sich miteinander unterhalten, wo bei Alkohol die Umdrehung kommt, wo sie dann zu etwas anderem werden, also zum Biest, zum Monstrum oder zum lüsternen Trottel überspringen. So was kenne ich aus dem Familienleben in meiner Kindheit.
Brachten Sie auch Zeitgenössisches auf die Bühne?
Wir haben auch Heiner Müllers „Schlacht“ angefangen. Man spielt, man schwitzt. Das Studententheater war für mich wichtig, weil ich gemerkt habe, die Form des nicht wissenschaftlichen oder konsequent logischen Denkens ist eine andere Form, die eine ganz eigene Welt entstehen lassen kann. Das habe ich nur instinktiv gemerkt, dieses Ausprobierenkönnen war ziemlich wichtig.
Haben Sie Ihr Studium als gesellschaftlichen Auftrag verstanden?
Ach nein, eigentlich habe ich alles als selbstverständlich empfunden.
Also die Anmaßung des DDR-Bürgers, der ja neurosenfrei ist, wenn was
passiert, kann man es ja immer auf das Es delegieren, man hat keine
wirkliche Verantwortung, man könnte ja, wenn man nur dürfte – und insofern
hat man mit der Unverschämtheit gelebt: Die lassen mich ja gar nicht.
Foto: Heike Zappe
Suchten Sie in den ideologischen und territorialen Beschränkungen nach Möglichkeiten, die geistigen Grenzen zu überschreiten?
Das war tatsächlich etwas an der Universität, was ich massenhaft verschlungen habe: den Bakunin, den Kropotkin, den Cohn-Bendit, den Jünger. Für Rudolf Münz, Joachim Fiebach, auch den Ernst Schumacher war es relativ selbstverständlich, mit so einer subversiven Freude zu sagen: „Lies das, jetzt hast du einen Studienauftrag.“
Diese Literatur lag gewöhnlich in den Giftschränken der Bibliotheken.
Wir haben uns ja immer im Ausnahmezustand gesehen, wir haben Geschichte immer als Krieg, als Revolution, vielleicht auch als etwas Wildes, Exotisches empfunden. Nie als Entwicklungsgang. Da fand ich es sehr angenehm, dass Leute an einer roten Universität sich gefreut haben, wenn man die Inkriminierten, die Linken, die individual-anarchistisch waren, mal zur Kenntnis nahm.
Empfanden Sie die Theaterwissenschaft als eine Inselsituation an der Humboldt-Universität?
Die Inselsituation war augenscheinlich; auch weil wir eingebunden waren in die Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaften. In den gemeinsamen Vorlesungen mit den anderen Geisteswissenschaften hat man schon gemerkt, dass es sehr viel standardisierter war, was die ideologische Erwartungshaltung angeht. Theater muss sich zu den Fragen der Geschichte und zu einer Politik viel explizierter äußern. Wir sind ja auch erzogen vom Schweizer Kommunisten Benno Besson oder Heiner Müller, die ja tatsächlich sozial und politisch eindeutiges, linkes Theater gemacht haben. Theaterwissenschaft zu studieren war ein Privileg. Es war einfach zu lesen, was man wollte, das war ja nicht selbstverständlich, zu denken und auch zu sagen, was man meint und in Ansätzen zu praktizieren. Das hatte was Verwunschenes, ein bisschen dornröschenmäßig Verschlafenes.
Wie sah denn der normale Alltag jenseits der philosophischen Betrachtungen aus? Wie haben Sie studiert Anfang der 70er?
Wir waren nur zwölf Studenten, sehr überschaubar. Es war ein inneres Bedürfnis, an den Seminaren teilzunehmen; etwas zu formulieren, zu fabulieren, Thesen zu setzen oder dann auch Antithesen, aber zumindest die Polemik zu trainieren, das war, glaube ich, wichtig. Es war, wie man mit der Zeit umgehen konnte, etwas sehr Freies, etwas sehr Royalistisches. Ich war der Herr meiner Zeit und nicht umgekehrt.
Wie haben Sie Ihr Studium finanziert?
Meinen Eltern ging es finanziell nicht schlecht, aber es war auch selbstverständlich, dass man ein Grundstipendium bekommen hat, dann ein Leistungsstipendium. Das ist natürlich ein wahnsinniges Privileg, dass man eigentlich seine Zeit nur zum Studium verwenden kann.
Im Gegensatz zu heute?
Vielleicht ist das was anderes, was viele junge Leute jetzt machen müssen, dass sie nebenbei, wie anstrengend es auch immer ist, in der Gastronomie arbeiten. Das ist eine erhebliche Belastung der Konzentration und auch eine Ablenkung.
Ihre Diplomarbeit zum Thema „Grundlinien der ,Entwicklung’ der weltanschaulich-ideologischen und künstlerisch-ästhetischen Positionen Ionescos zur Wirklichkeit“ wurde 1976 mit sehr gut bewertet. Wären Sie gerne an der Uni geblieben?
Ich hatte damals überlegt. Erst musste ich drei Jahre in die Theaterpraxis. Ich bin nach Senftenberg gegangen, und mich interessierte die Universität auch eigentlich weiter: weiter zu denken, weiter zu gehen, als was man da im Studium abgerechnet hat. Und dann kam eben doch die völlig veränderte Situation, die Verharschung, die bleierne Zeit nach der Biermann-Ausbürgerung. Ich habe dann gemerkt, dass Misstrauen, Angst, in so einen Denk-Sicherheitstrakt, in so eine kleine Insel wie in der Theaterwissenschaft hier an der Humboldt-Universität, hineingetragen wurde.
Sie nannten schon Dozenten, die für Sie prägend waren …
Bei der Studentenbühne war es Horst Hawemann, der hat in Russland
studiert, das war jemand, der Theater wahrgenommen hat als etwas ganz
Körperliches. Es ist ja immer mehr die Freude an den Umwegen; die ist auch
nicht mehr da, kostet zu viel Zeit.
Foto: Heike Zappe
Am Theater zu sein oder im Studium war immer eine Art Leben in der Nische?
Es war ein Luxus, weil man exotisch in der DDR leben konnte. Dazu gehört das Grundnahrungsmittel Wissen. Heute kann jeder alles lesen, man ist überflutet und nicht mehr in der Lage, irgendwas zu selektieren, wofür entscheidest du dich. Und da ist das ganze Theater, wie eine Geisteswissenschaft, eine Theaterwissenschaft. Ja, es war ein Stück wilde Exotik und nicht wirklich relevant für einen selbst, um überleben zu können, sondern man hat frei gesurft in dieser Sphäre der organisierten Hoffnungslosigkeit.
Gibt es irgendetwas, das Sie als essenziell wichtig aus der Universität mitnehmen?
Man hatte einen Rausch, in dem man bereit war, Grenzen unbedingt zu verletzen. Und damit meine ich nicht mal unbedingt die Demarkationslinie in der Friedrichstraße, sondern ich meine Grenzen der Übereinstimmung. Bestimmend war, ob ich aus der Vergangenheit eine Kraft entwickelt habe. Vielleicht hat man auch die Fähigkeit der Verstellung, der Vermaskung, gelernt, das kann sein.
Das Gespräch führten Jörg Wagner und Heike Zappe.