Eröffnung Netzwerk Europäischer Universitäten
Sicherlich kennen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Formulierung "Europa eine Seele geben". Sie stammt ursprünglich von Jacques Delor und ist zugleich die Bezeichnung einer im Jahre 2003 gegründeten zivilgesellschaftlichen Initiative um Volker Hassemer und Wolf Lepenies. Die hauptsächlich aus Berlin stammenden oder zumindest dort wirkenden Initiatoren sind davon überzeugt, daß die Entwicklung Europas auf die Kraft der Kultur angewiesen ist und diese nachhaltig als strategischen Faktor des europäischen Einigungsprozesses nutzen muß. Freilich ist diese Initiative bei weitem nicht der einzige Indikator dafür, daß Jacques Delor mit seiner Formulierung eine Art Motto für europäisches Engagement von Kulturschaffenden und Wissenschaftlern formuliert hat, das weit über nationale und weltanschauliche Grenzen hinweg überzeugte Europäer eint. Wenn man die Formulierung "Europa eine Seele geben" in einer der Internet-Suchmaschinen eingibt, dann wird man auf einen wahren Marathon von einschlägigen Zusammenkünften aufmerksam, die mit der nämlichen Formulierung übertitelt sind: ein Treffen der von Kardinal König begründeten Stiftung "Pro Oriente", eine Belgrader Fachkonferenz der "Konrad-Adenauer-Stiftung", eine Begegnung des Paderborner Priesterseminars mit parallelen Einrichtungen in Osteuropa und diverse programmatische Reden verwiesen, die sich auf die Formulierung von Delors beziehen und illustrieren, daß der frühere Präsident der europäischen Kommission einen Nerv der Sache getroffen hat. "Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt", hat er einmal gesagt, nein, Fleisch und Blut, Leib und Seele, ein Gesicht muß das europäische Projekt schon haben, damit es im Blick auf die europäische Einigung nicht bei Luthers bekannt lakonischem Satz über seine Ehefrau Katharina von Bora bleibt: "Wo wir sie nun einmal haben, wollen wir sie auch lieben".
Freilich - seit dem ich diesen Satz im Sommersemester 2006 das erste Mal bewußt gehört habe, im Rahmen der Vorlesungen übrigens, die prominente europäische Politiker an der Humboldt-Universität eingeladen von Walter-Hallstein-Institut für europäisches Verfassungsrecht an der Humboldt-Universität geben, grüble ich über ihn. Weniger deswegen, weil die evangelische Theologie, mein eigentliches Fachgebiet, den Seelenbegriff wie auch die Philosophie, lange pointiert verabschiedet hatte und sich erst mühsam wieder zurückerobert, nicht zuletzt durch eine umsichtige Exegese einschlägiger antiker Texte vor allem im angelsächsischen Raum. Nein, mehr deswegen, weil für den Theologen die Vorstellung, wir könnten etwas beseelen, leicht hybrid klingt und nach Anmaßung. Ob wir in der Lage sind, unsterbliche Werte zu schaffen - und sei es für eine so schlechterdings zentrale Sache wie für Europa, darf man auch dann bezweifeln, wenn man weiß, zu welchen rhetorischen Reckaufschwüngen französische Politiker im Unterschied zu deutschen fähig sind - und Jacques Delor ist ein französischer Politiker. Zurückhaltung gegenüber seiner Formulierung prägt freilich viele Ansprachen, die seine Metaphorik trotzdem verwenden. Im Januar 2007 sagte die deutsche Bundeskanzlerin vor dem europäischen Parlament, daß man Delors Metaphorik ergänzen müssen und weiter wörtlich: "Ich darf mit meinen Worten hinzufügen: Wir müssen Europas Seele finden. Denn eigentlich brauchen wir sie Europa nicht zu geben, weil sie schon bei uns ist" Und Angela Merkel fragt, ob die überall sichtbare kulturelle, aber auch juristische und politische Vielfalt Europas vielleicht diese schon immer vorhandene Seele Europas sei? Ich zitiere sie weiter: "Kaum jemand hat das schöner ausgedrückt als der Schriftsteller Karel Capek, ein großer Europäer aus Prag, ich zitiere: "Der Schöpfer Europas machte es klein und teilte es sogar in winzige Stücke auf, so dass sich unsere Herzen nicht an der Größe, sondern an der Vielfalt erfreuen". Und so finden sich allerlei Weiterführungen und Kritiken der Metapher - Merkel erklärt die Toleranz für die je schon vorhandene Seele Europas, Papst Benedikt XVI. das Christentum für die vom Verlust bedrohte und wiederzufindende Seele Europas, andere ersetzten die Suche nach der Seele durch die Suche mit der Seele: Europa mit der Seele suchend nach bekanntem Vorbild. Und wieder andere ersetzen der Terminus: Europa ein Herz geben, eine Persönlichkeit, einen Charakter. Und spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß man die Formulierung vernachlässigen kann, selbst wenn ihre Exegese Gewinn für die Gestalt der europäischen Arbeit bringt - die Sache selbst ist unstrittig und weist auch uns, den Wissenschaftlern an Europas Universitäten, eine klare Aufgabe zu.
Nicht nur die Berliner Initiative "Europa eine Seele geben" weist immer wieder auf die Bedeutung der jungen Generation hin, auf die Multiplikationswirkung von einschlägig orientierten jungen Entscheidungsträgern und solchen, die es einmal werden wollen. Es ist insofern mehr als verständlich, daß die Guardini-Stiftung die Initiative ergriffen hat, sich für eine wirklich durchgreifende Europäisierung des europäischen Hochschulraumes einzusetzen - mithin, um Delors zu variieren, dem Bologna-Prozeß eine Seele zu geben. Die Grundidee, nicht nur die formalen Strukturen von Studium in Europa zu harmonisieren, sondern gemeinsame Elemente eines europäischen Kerncurriculums darin einzufügen, ist ebenso schlicht wie genial. Jeder unter uns weiß, daß am Anfang des europäischen Hochschulraumes im Hochmittelalter ein solches europäisches Kerncurriculum stand, bis heute reicht ein schmales Bücherbrett, um die einschlägigen Referenztexte zu versammeln, das Organon des Aristoteles und bestimmte Kommentierungen, aber natürlich auch stärker fachspezifische Werke wie die "Sentenzen" betitelte Blütenlese des Pariser Bischofs Petrus Lombardus aus Augustinus. Wir wissen natürlich auch alle, daß ein gutes Stück der von Angela Merkel beschriebenen Vielfalt sich einer neuzeitlichen, nur allzuoft national konturierten Pluralisierung verdankt, einer Auflösung der jeweiligen europäischen canones, die bis zu einem gewissen Grade irreduzibel ist, auch wenn das noch nicht alle wahrgenommen haben. Aber zwischen einem trotzigen oder larmoyanten Beharren auf den sorgfältig bewachten geistigen Grenzen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts und einer naiven Sucht nach hochmittelalterlicher Einheit im angeblichen corpus Christianum gibt es ja auch noch, aristotelisch gesprochen, eine via media erneuerter Einheit auf der Basis der europäischen Vielfalt, Einheit, die Pluralität nicht negiert, sondern integriert. Mir scheint, und das halte ich für das besonders Attraktive an den Planungen, die in den nächsten beiden Tagen besprochen werden, daß das hier vorgelegte Modell von Elementen eines gemeinsamen Curriculums genau diese heilsame Synthese von Einheit und Vielfalt voraussetzt (oder besser: umsetzt).
Als ich vor längerer Zeit gefragt wurde, ob die Humboldt-Universität zu Berlin eine gewisse Federführung bei Antragstellung und Durchführung unseres gemeinsamen Projektes übernehmen kann, habe ich gern und freudig zugesagt - die Gründung unserer Universität vor zweihundert Jahren war sehr deutsch, antifranzösisch nicht nur im gemeinsamen Auftritt von Lehrenden und Studierenden der Universität in den Befreiungskriegen. Alexander von Humboldt steht zwar vor dem ehrwürdigen Hauptgebäude der alma mater Berolinensis, aber er war nie Professor der Universität, sondern nur ihr wohl bis auf den heutigen Tag prominentester Gaststudent und Gastdozent. Humboldt steht vor den Toren, Humboldt muß immer wieder hineingeholt werden in die deutsche Universität, da bildet die Mutter aller Reformuniversitäten, das moderne Original der Reformuniversität keine Ausnahme, sondern nur ein besonders charakteristisches Beispiel. Aber die heute und morgen feierlich inaugurierte Initiative ist nicht nur ein hervorragendes Mittel, Europa eine Seele zu geben, sondern eben auch ein probater Weg, Humboldt nicht vor den Toren der Universität stehen zu lassen - so hat es Sinn, daß ausgerechnet wir uns an dieser Stelle besonders engagieren. Daß ich unserer Konferenz, an der ich leider nur partiell teilnehmen kann, daher besonders herzlich einen guten Verlauf und gute Ergebnisse wünsche, versteht sich eigentlich von selbst. Aber manche Selbstverständlichkeiten kann man, wie der Prozeß der europäischen Einigung lehrt, nicht oft genug wiederholen. Bleibt mir nur die Hoffnung, Sie durch meine Wiederholungen nicht gelangweilt zu haben.
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität