Vorstellung Joachim Gauck
Grußwort am 26. Mai 2009
Wohin, verehrte Damen und Herren, liebe Frau Schneider-Kempf, lieber Herr Saur und lieber, verehrter Herr Gauck, wohin schaut der Theologe, der den Theologen Joachim Gauck einführen soll? Er schaut nicht in das Internetlexikon Wikipedia, jedenfalls nicht sofort, er schaut nicht auf die Homepage des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR - www.bstu.bund.de -, jedenfalls nicht zuerst, sondern nimmt ein kleines Heftchen zur Hand, das sich zufällig in seinem Besitz befindet: Rostocker Universitätsreden, Neue Folge, Heft 3, Rostock 1999. In diesem unscheinbaren Heft dokumentierte die hochwürdige Theologische Fakultät der Universität Rostock ihren Festakt anläßlich der Verleihung der Würde eines Doktors der Theologie ehrenhalber an Joachim Gauck in der Aula, 20. Januar 1999, 63 Seiten, zu beziehen beim Schriftentausch der Universitätsbibliothek.
Das kleine Heftchen enthält eine Laudatio des Dekans der nämlichen Rostocker Theologischen Fakultät und dem Kollegen ist der Stolz durchaus auch noch in der schriftlichen Fassung abzuspüren, schließlich wird ein einstiger Student der Fakultät geehrt, der es zu etwas gebracht hat, sein Leben nicht als Dorfpastor irgendwo zwischen Schwerin und Stargard oder sonstwo in Mecklenburg beschlossen hat, obwohl es zunächst ganz traditionell so begann: Theologiestudium von 1958 bis 1965, nach der Ordination Pastor in Lüssow im Kreis Güstrow und dann ab 1971 in einer Plattenbausiedlung vor den Toren des mittelalterlichen Stadtkerns von Rostock, in Evershagen, zusätzlich Stadtjugendpastor. Schon nicht mehr ganz so traditionell war, daß Joachim Gauck seit 1982 die Kirchentagsarbeit in Mecklenburg leitete - bekanntlich gab es in der alten DDR nicht zuletzt aus politischen Gründen keine zentralen Kirchentage mehr, sondern regionale und eine umso wichtigere Rolle spielten sie in diesem vormundschaftlichen Staat als Ort der Kommunikation, durchaus nicht nur für Christenmenschen. Wie es dem Pfarrer Gauck in Lüssow und Evershagen, wie es im auf den regionalen Kirchentagen und bei den großen Friedensgebeten in der Rostocker gotischen Marienkirche ging, darüber allerdings schweigt sich die kleine Rostocker Broschüre von 1999 aus, der Kollege, dem die Laudatio zugefallen war, scheint es nicht zu wissen, der gelobte, neue Ehrendoktor schweigt über diese Phase des Lebens weitestgehend, erzählt auch keine fröhlichen oder traurigen Geschichten aus dem Studium der Fakultät, die ihn da gerade auszeichnet, eine klassische Form norddeutsche Zurückhaltung, so scheint mir.
Unter meinen Büchern findet sich natürlich nicht nur ein Heftchen über Joachim Gauck und das wäre wohl auch eine allzu schmale Basis für eine Vorstellung; dreißig Titel nennt der Online-Katalog der Preußischen Staatsbibliothek, darunter die Augsburger Universitätsreden Nummer 57 von 2006, die Dokumentation der Verleihung der Würde eines Doktors der katholischen Theologie ehrenhalber und manches andere. Nun kann ein vielbeschäftigter Universitätspräsident nicht alles lesen, was Joachim Gauck in eigenem Namen, gemeinsam mit anderen und seit 2. Oktober 1990 als Sonderbeauftragter für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes beziehungsweise seit Dezember 1991 als Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR geschrieben hat, allzumal, wenn er wenig von der Praxis hält, andere für sich lesen zu lassen.
Also bekenne ich ganz offen, daß ich zur Vorbereitung dieser Vorstellung neben den üblichen Quellen im weltweiten Netz noch genau zwei andere Büchlein gelesen haben - eines nach- und eines neu gelesen. Nachgelesen habe ich in dem Büchlein, das Joachim Gaucks Rede in der Tübinger Gedenkveranstaltung zur fünfzigjährigen Wiederkehr des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 dokumentiert, damals war ich frisch habilitierter und nach Jena berufener Kirchenhistoriker und gönnte mir gleichsam den Festakt zum Abschied aus Tübingen. Auch in dieser Rede deutet Gauck die persönlichen Prägungen einer Jugend in der DDR nur zart an, genauso zart wie fünf Jahre später in Rostock: "Ich denke an meine Jugend, die Junge Gemeinde in der DDR, …, und an die guten Dinge, die ich dort lernte durch Worte und noch mehr durch Haltungen. … Ich denke an die Diakone und Pfarrer, die mich gelehrt haben, ‚Nein' zu sagen, als ‚Ja' verlangt wurde" (14). Inwieweit seine Überlegungen zur Zivilcourage, die er 1994 in Tübingen unter dem Titel "Wahrnehmen - Aushalten - Widerstehen. Zivilcourage: Erwägungen zu einem schwierigen Begriff in einem schwierigen Jahrhundert" vortrug, persönlich grundiert waren, konnte man genauso nur ahnen wie bei dem Vortrag 1999 in Rostock unter dem Titel: "Wahrnehmen, Widerstehen, Gestalten. Anmerkungen zu Transformationsproblemen posttotalitärer Gestalten". Zweimal ein Gauckscher Dreischritt, ein Dreischritt, der beide Male mit der Wahrnehmung einsetzt. Hier sind die Bemerkungen am ehesten persönlich grundiert: Der Rostocker Student, der nichts wahrnimmt vom Widerstand gegen den stalinistischen Staat, der Bundesbeauftragte, der sich fragt, "ob nicht eine zu große Sicherheit der überlegenen Moral gegenüber den Unterdrückern gelegentlich auch schädlich sein kann für die schwierige, langwierige und seriöse Arbeit der Faktensammlung" (39), der die allzu deutsche "Überbetonung des moralischen Protestes" durchaus kritisch betrachtet und natürlich die posttotalitäre Verklärung der Diktatur: "Die Akten einer Diktatur sind die Apotheke gegen Nostalgie", lautet einer dieser wunderschön knappen, treffenden Gauck-Sätze.
Wenn man die beiden Versuche, den Tübinger und Rostocker, nachliest, studiert, wie Gauck im Gauckschen Dreischritt das Wahrnehmen beschreibt, ist man beeindruckt über die tiefe Fundamentierung der Beschreibung von Wahrnehmung - durch politikwissenschaftliche Theoriebildung, durch philosophische Konzepte, von Hannah Arendt bis Karl Popper und weiter im Alphabet reicht der Reigen der Theoriebildungen, die Gauck ebenso selbstverständlich wie nüchtern synthetisiert bei seinen Versuchen der Wahrnehmung und die Reihe der Namen markiert ihn als Kind einer spezifischen Form spätneuzeitlicher Aufklärung und diese nüchterne Königsberger Allianz von Protestantismus und Aufklärung gegen Obskurantismus und Totalitarismus ist ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, vielleicht einer der interessantesten Beitrag des evangelischen Christentums zur neuzeitlichen Welt, jenseits von lutherischer Obrigkeitsfrömmigkeit und calvinistischem Arbeitsethos. "Aber", sagt Gauck, "der Mensch hat trotz Manipulierung, Konditionierung und mannigfaltiger Prägung die Fähigkeit zur Wahrnehmung sowie zur Rückkehr zu sich selbst, zum eigenen Gewissen" (19). So formuliert protestantische Aufklärung, so agiert der protestantische Aufklärer, in dem er die Wahrnehmung schärfen hilft und zur Rückkehr zum eigenen Gewissen anleitet, ganz egal, ob im Amt des Bundesbeauftragten oder danach, im Ruhestand, in vielfältigen ehrenamtlichen Funktionen.
In beiden Gauckschen Dreischritten, dem Tübinger wie dem Rostocker, ist auch vom Widerstehen die Rede. Und es fällt auf, daß "Widerstehen" von Gauck nicht nur im Vergangenheitstempus verhandelt wird. "Wir träumten vom Paradies und wachten auf in Nordrhein-Westfalen", lautet ein anderer, wunderbar knapper und treffender Satz von ihm. Da kritisiert einer das westliche Lagerdenken, die erkennbaren Probleme der Parteiendemokratie und zieht große Linien zu anderen Formen des Lagerdenkens in der deutschen Geschichte, ohne die Unterschiede klein zu reden: "Obwohl kein Politbüro Leitlinien ausgibt, stellt sich mir allzu häufig Bekanntes im unbekannten Westen vor: die verfestigte Lagermentalität" (16). Da kritisiert einer, fein beobachtend, sein Vaterland in Ost und West als "Land des Gehorsams" (21), als Land des selbstverliebten, melancholischen Verklärens der eigenen Ohnmacht, von Orientierungsschwierigkeiten in einer der Spätmoderne, die Habermas als neue Unübersichtlichkeit charakterisiert hat, aber auch von fundamentaler Verweigerung und Selbstbetrug, "die Fakten der Repression in Gänze anzuerkennen", wie Gauck formuliert (41) - ich bin versucht, aus aktuellem Anlaß zu ergänzen: den Unrechtsstaat als Unrechtsstaat anzuerkennen. Denn die in diesen Tagen vorgetragenen Versuche semantischer Reckaufschwünge zu diesem Begriff, gerade auch von Bewerbern um höchste Staatsämter, enden jeweils mit dem Absturz auf den kalten Boden, eine passable Straßenverkehrsordnung mit grünem Pfeil an Ampeln macht noch keinen Rechtsstaat und ein wenig Recht im Unrecht säuert noch nicht den ganzen Teig.
Ein drittes Büchlein gelesen zu haben, hatte ich vorwitzig eingestanden. Ein nachdenklicher Gauck in Schwarz-Weiß blickt vom Titel des Büchleins "Die Stasi-Akten", Hamburg 1991. Ja, es war und ist vermutlich kein Vergnügen, in diese Berichte zu schauen und nur wenige vermögen, wie ebenfalls 1994 und unvergeßlich in Tübingen der Hallenser Chemiker Peter Bohley, durch die Lektüre der Akten Lachstürme im Publikum zu erzielen und sich auf diese Weise selbst von den Schatten der finsteren Gestalten zu befreien, "verlachen" als Form der Vertreibung und des befreiten inneren Umgangs mit den Finsternissen der Vergangenheit. Die Sätze des Büchleins sind kurz und knapp, die Erzählung fesselnd, die Analyse leuchtend klar: "Das Zentralarchiv gilt als das schwerste Haus von Lichtenberg, weil die Wände und Böden aus besonders dickem Beton gefertigt wurden, um den Belastungen durch die gewaltigen Papiermassen überhaupt standhalten zu können" (12). Bildlicher kann man wahrscheinlich über die Dokumentationswut und damit über die ungeheueren Dimensionen der Überwachungstätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit nicht sprechen. Und unter der Überschrift "die Herrschaft der Angst" findet sich in diesem Büchlein übrigens dann auch eine sehr bedrängende Schilderung der Verhaftung eines Rostocker Arbeitsschutz-Inspektors für Seefahrt samt ihrer Folgen - der Verhaftung von Vater Gauck und ihrer Auswirkungen auf den Sohn und seine Existenz unter dieser Herrschaft der Angst.
Drei Büchlein sind viel zu wenig und zehn Minuten reichen nicht, um einen protestantischen Aufklärer par exellence vorzustellen; um einen leidenschaftlichen Pädagogen der Befreiung unter der Maske eines zurückhaltenden Norddeutschen zu enttarnen, um die vielen Beobachtungen eines sensiblen Beobachters zusammenzutragen. Aber ich kann beruhigt vom Mikrophon treten, denn jetzt wird Klaus Saur, ein Meister des Gesprächs, Joachim Gauck all' das entlocken, was zu entbergen mir aus Mangel an Lektürezeit oder welchen Gründen auch immer versagt blieb. Vielen Dank für Ihre Geduld.
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität