Grußwort zur Enthüllung einer Harnack-Tafel
„Zunächst galt es nun, sich in Berlin einzurichten – einzurichten mit fünf Kindern, von denen zwei noch getragen werden mußten, im dritten Stock eines Berliner Mietshauses, dessen Tür durch einen echt Berliner Portier-Cerberus gehütet wurde, und in dem die Kinder auf seinen Befehl nur die Hintertreppe hinaufgehen durften. Der düstere Hof war kein Spielplatz; er gewann höchstens einigen Reiz, wenn ein Leiermann erschien und aus dem Küchenfenster die sorgfältig eingewickelten Pfennige auf den Hof klappten, oder wenn am Sonntagmorgen die Kurrendeknaben in ihren dürftigen schwarzen Schultermäntelchen dort ihre geistlichen Lieder sangen“ – mit diesen Worten beschreibt Harnacks Tochter Agnes die erste Wohnung, in die der Kirchenhistoriker 1888 nach allerlei Querelen um seine Berufung an die Friedrich-Wilhelms-Universität zog, sie lag in der heutigen Hiroschima-Straße Nr. 22 im Tiergartenviertel (177). Als nach zwei Jahren eines der Kinder starb und auf dem Matthäuskirchhof begraben werden mußte, übrigens genau dort, wo später Harnack selbst begraben werden sollte, verließ man die Stadtwohnung im Geheimratsviertel und zog in den damaligen äußersten Westen, hier in die Fasanenstraße, bis 1896 Gravelottestraße genannt; Wilmersdorf bei Berlin. „Das war kein kleines Wagnis! Denn zunächst einmal kündigten die Hausangestellten, die sich weigerten, mit ‚aufs Land’ zu ziehen. Einsam lag die Baustätte, von der aus man die Abendsonne hinter den Kiefern des Grunewaldsees versinken sehen konnte. Ringsum breiteten sich Wiesen, die von mächtigen graugrünen Weiden umflossen waren. … Aber ‚zur Stadt’ zu gelangen, das war nicht einfach; denn die Pferdebahn ging erst in der Kurfürstenstraße ab, und die Stadtbahn verkehrte nur in großen Zeitabständen. Doch das alles nahmen die Eltern auf sich, um ihren Kindern Raum, Licht und Luft zu verschaffen“ (190). Neben Harnack wohnte der Bruder von Harnacks Schwager Delbrück, der Direktor des Instituts für Gärungsgewerbe, eine Tür weiter ein Fabrikbesitzer, mit allen pflegten die Harnacks geselligen Umgang, dazu mit den Familien der Architekten Hermann von der Hude und Hans Griesebach. Die kahlen Brandwände wurden zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts „mit Gemälden einer idealen Architektur im Florentiner Stil“ bedeckt; auf der Seitenwand war das Wappen der preußischen Akademie der Wissenschaften aufgemalt, ein Adler, der sich über die Kuppeln und Türme Berlins in den gestirnten Himmel aufschwingt: Cognata ad sidera tendit, „er strebt den ihn verwandten Sternen zu“ (271).
Geselligkeit und Arbeit waren die zentralen Elemente des Lebens hier in der Gravelotte- bzw. Fasanenstraße. Nach einer Morgenandacht und dem Frühstück saß Harnack in der Regel ab acht Uhr morgens am Schreibtisch und arbeitete zwölf Stunden; nach dem Abendessen nahm Harnack keine Arbeit mehr in die Hand: „In meinem Hause wird nach 8 Uhr nicht mehr gearbeitet“ (281). Die Abendstunden wurden durch Vorlesen, Plaudern, Musik, Kartenspiel – Harnack legte leidenschaftlich gern Patiencen – und vor allem durch Einladungen gefüllt; das erhaltene Gästebuch bewahrt die Preußische Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße. Eingeladen wurde aus dem großen Freundeskreis. Neben den genannten Nachbarn war man natürlich mit theologischen und sonstigen Universitätskollegen wie dem Althistoriker Theodor Mommsen verbunden, aber beispielsweise auch mit dem Generaldirektor der Staatlichen Museen und seiner Frau, jeden zweiten Mittwoch abends versammelte sich das sogenannte „Kränzchen“, oft erschien auch der Bruder Otto Harnack, der als freier Schriftsteller in der Derfflingerstraße 27 lebte. Alle vierzehn Tage wurden Studenten, später auch Studentinnen eingeladen, die Harnack früh integrierte. Ein Student schreibt: „Wie gerne denke ich zurück an die herrlichen Abende, da wir auf der Veranda saßen, überstrahlt vom roten Schein der Lampe, hinausblickend in die dämmernde Nacht, in der das Brausen der Riesenstadt fernhin verklang. Wie wir da ihren Worten lauschten, alle einig in den großen, begeisternden Gedanken und doch jeder schon die Anfänge der eigenen Individualität tragend“ (232).
Neben die Geselligkeit trat die Arbeit: Morgens begann Harnack zunächst mit einer Zigarre in der Hand die Post durchzuarbeiten, schon hier in der Fasanenstraße im Wochendurchschnitt fünfundsiebzig Zuschriften, die eine Antwort erforderten (282). Dann wurde, falls die zunehmende Ämterfülle nicht Anwesenheit in der Stadtmitte erforderlich war, gearbeitet, durch gelegentliche Pausen und einen Nachmittagsspaziergang unterbrochen. Harnack schloß in den zehn Jahren, die er in der Fasanenstraße lebte, fünfhundertsiebzig Bücher, Aufsätze und Rezensionen ab, darunter einen Grundriß der Dogmengeschichte, eine altchristliche Literaturgeschichte in vier Bänden, eine Geschichte der Ausbreitung des antiken Christentums, zwei Aufsatzbände, diverse Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften und eine dreibändige Geschichte der Einrichtung, allerlei allgemeinverständliche Schriften und Zwischenrufe zu allerlei Themen von öffentlichem Interesse, beispielsweise zur Sprachenfolge am Gymnasium. Das Arbeitszimmer stand den Kindern offen, die dort an einem großen Tisch die Hausaufgaben anfertigten; zwei weitere Kinder wurden 1892 und 1895 geboren.
Geselligkeit und Arbeit – mit diesen beiden Begriffen ist der Haushalt in der Fasanenstraße einigermaßen recht charakterisiert. Daß beides nebeneinander seinen Platz hatte, verwundert heute, wie es damals verwunderte. „Neulich hat eine Dame in Berlin gesagt, das Wesen des Christentums hätte auf sie einen gewissen Eindruck gemacht, der aber sei verfolgen, da sie in Sylt mich beobachtet habe; mit Abscheu habe sie beobachtet, daß ich heidnischem Wohlleben verfallen sei – sie habe mich nämlich einen Hummer essen und Sekt trinken sehen! Den Sekt hat sie dazu gemacht; der Hummer ist richtig. Zu bedauern habe ich nur, daß ich nur einmal in Sylt Hummer gegessen und damit eine schöne Gelegenheit verpaßt habe. Die ganze Geschichte sehe ich aber als Strafe dafür an, daß ich Hummer ohne Sekt genossen habe“ (Harnack an Holl, nach Zahn-Harnack, 245).
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität