"Über Grenzen" - 48. Deutscher Historikertag 2010
"Über Grenzen", verehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Frau Merkel, dear Excellency, Ambassador Murphy, verehrte Herren Vorsitzender Plumpe und Lautzas, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen Sie auf dem achtundvierzigsten Historikertag nachdenken - ehrlich gesagt, ein zutiefst ambivalentes Thema: "Aus Tradition Grenzen überschreiten" mag ein passables Motto für ein jüngst gefeiertes Jubiläum der zweitältesten deutschen Universität gewesen sein; in jener osteuropäischen Hauptstadt, aus der die Leipziger Studenten 1409 auszogen, und überhaupt jenseits von Oder und Neiße dürfte der Satz "aus Tradition Grenzen überschreiten" eher sehr schmerzliche Erinnerungen an deutsche Grenzüberschreitungen wecken. Dabei kommt, wie uns das wunderbare, 1838 hier in Berlin von den Brüdern Grimm begonnene Deutsche Wörterbuch verrät, das Wort "Grenze" aus dem Slawischen, freilich nicht, wie die Bearbeiter des entsprechenden Faszikels an der Preußischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1935 noch meinten, aus dem Polnischen, sondern aus dem Pomoranischen, dem Ostseeslawischen, wenn ich an dieser Stelle richtig recherchiert habe und hat sich, wie unter anderem das Marienburger Tresslerbuch dokumentiert, nicht zuletzt über Kontobücher des Deutschen Ordens vom Osten her auch im Westen verbreitet. Wenn man in diesen Tagen über Oder und Neiße, den Deutschen Orden und die Ostseeslawen redet, wird noch einmal deutlich, daß man es mit der uns so lieb gewordenen Dekonstruktion historischer Realitäten auch zu weit treiben kann - es gibt nicht nur in der politischen Debatte, sondern eben auch in der Geschichtswissenschaft harte Grenzen, die man nicht ignorieren sollte und die kein Positivismusvorwurf gleichsam in Luft auflösen kann - wollte ich an dieser Stelle aber weiter reden und als Historiker des antiken Christentums ganz allgemein über Grenzen in der historischen Wissenschaft philosophieren, so würde ich die mir zugebilligte Grenze, ein Grußwort zu sprechen, überschreiten und auch dies wäre eine Grenzüberschreitung, die man unbedingt vermeiden sollte.
Also walte ich lieber meines Amtes als Präsident der traditionsreichen Berliner Humboldt-Universität und begrüße Sie, verehrte Damen und Herren, die von nah und fern angereist sind, sehr herzlich zu diesem Kongreß, dessen Gastgeber wir als Universität und ich ganz persönlich von Herzen gern bin. Berlin hat sehr spezifische Erfahrungen mit Grenzen - und nun rede ich nicht darüber, daß mich der durch Kupferband oder Pflastersteine markierte Verlauf der Berliner Mauer gelegentlich unsanft daran erinnert, den Hinterreifen meines Fahrrades aufzupumpen, denn das wäre zum zwanzigsten Jahrestages eines (wenn Sie dem Theologen das Wort gestatten) reinen Wunders doch etwas zu despektierlich formuliert. Und ich spreche auch nicht darüber, wie wir an der Humboldt-Universität immer wieder diese verschwundene Grenze in der Mitte der Stadt noch und jüngst vielleicht sogar wieder mehr spüren, obwohl wir sicher nicht zu den gescheiterten Beispielen deutscher Wiedervereinigung im kleinen gehören - nein, ich erspare Ihnen Beispiele bewegender Grenzüberschreitungen aus zweihundert Jahren universitärer und außeruniversitärer Forschungsgeschichte, man kann dazu nämlich gerade im Gropiusbau unter dem Titel "WeltWissen" eine Jubiläumsausstellung von Akademie, Charité, Universität und Max-Planck-Gesellschaft ansehen. Ich mache Sie vielmehr mit der Zurückhaltung, die einer erneuten Grenzüberschreitung des Althistorikers ins Feld der Zeitgeschichte wohl ansteht, darauf aufmerksam, wie sich diese ganze Stadt, in der Ihr Historikertag stattfindet, als Anschauungsobjekt Ihrer Diskussionen eignet: Dort, wo der Architekturhistoriker Gerwin Zollen den Grenzverlauf der alten Mauer mit einem Kupferband markiert hat, vor dem alten preußischen und heutigen Berliner Abgeordnetenhaus, treffen Sie auf eine neue Grenze, nämlich einen Bannkreis, der das Berliner Landesparlament vor den gelegentlich recht heftigen Willensbekundungen der Bevölkerung schützt (auch davon kann die Humboldt-Universität in zweihundert Jahren ein trübes Liedchen singen). Ich habe bei der Vorbereitung dieses Grußwortes gelernt, daß der Bannkreis im heutigen Sinne auch in Berlin erfunden wurde, nach einem blutigen Zwischenfall im Zusammenhang einer Demonstration gegen die Reichsregierung vor dem Reichtagsgebäude am 13. Januar 1920 mit 42 Toten und 105 teils Schwerverletzten. Material für den bislang ungeschriebenen Artikel "Grenze" in den "Geschichtlichen Grundbegriffen" findet man an diesem Ort und in meiner Universität reichlich.
Wenn ich Ihnen so, meine sehr verehrten Damen und Herren, zu demonstrieren versuche, daß eine Debatte "Über Grenzen" in Berlin und an der Humboldt-Universität durchaus am richtigen, an einem sehr treffenden Ort stattfindet, tue ich - vorsichtig formuliert - nichts gänzlich Unerwartetes und das geschieht auch ganz gewiß nicht, wenn ich Ihnen zum Schluß meines Grußwortes nochmals ein sehr herzliches Willkommen entbiete. Freilich gehört eine gewisse Erwartungskonformität zum Genre des Grußwortes und auch da weckt eine allzu entschlossene Grenzüberschreitung eher Mißvergnügen, denn Vergnügen. Solches Vergnügen aber an der Stadt und Ihren gemeinschaftlichen Diskussionen wünsche ich Ihnen, nun zunächst mit dem amerikanischen Botschafter. Wie sagt der schlesische Barockdichter Daniel Caspar von Lohenstein so schön: "Der Mensch, die kleine Welt, beherrscht die große Grenze". Möchte das doch von diesem Historikertag gelten. Vielen Dank!