Humboldt-Universität zu Berlin

Feierliche Eröffnung des Akademischen Jahres 2007/2008

Grußwort vom 15. Oktober 2007

In einer matricula, verehrter, lieber Herr Biedenkopf, lieber Herr Prömel, verehrte, liebe Kollegen im Vizepräsidentenamt, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allem aber: liebe Neuimmatrikulierte – in einer matricula notierte das Mittelalter diejenigen Geistlichen, die in einer speziellen Kirche in Lohn und Brot standen, aber auch die Armen, die von derselben Kirche regelmäßig unterstützt wurden und schließlich auch die Abfolge der Gottesdienste, die man dort Woche für Woche hielt. Matriculaheißt eigentlich nichts anderes als: öffentliche Liste. Auch die mittelalterlichen Universitäten trugen jeden neuen Studierenden in ein Verzeichnis ein, notierten Namen und landsmannschaftliche Herkunft in dicken Büchern, die heute von klugen Historikern kritisch ediert werden – präziser gesagt: Es trug sich jeder Student selbst mit Namen und Herkunftsangabe in das Matrikelbuch ein, eine einzigartige Quelle nicht nur für die Universitätsgeschichte unseres Landes. Selbstverständlich führte auch die Humboldt-Universität seit ihrer Gründung 1810 solche Martikelbücher und hat sie erst kurz vor der Wende in den achtziger Jahren zugunsten der elektronischen Datenverarbeitung endgültig eingestellt.

Immatrikulation, wörtlich also die Einschreibung in die Martikel, in die öffentliche Liste der Studierenden dieser Universität, feiern wir trotzdem noch und keineswegs deswegen, weil man schlicht vergessen hat, diesen alten Zopf abzuschneiden – wer ein wenig die deutschen Universitätsreformen des zwanzigsten Jahrhunderts verfolgt, weiß, daß da eigentlich nur sehr wenige Bedenken trugen, alte Zöpfe und was man dafür hielt, radikal abzuschneiden, nicht immer zum Vorteil der Institution. Immatrikulationsfeiern gibt es nach wie vor, weil Immatrikulieren eben nicht nur bedeutete, Namen und Herkunft auf ein Blatt Papier zu schreiben. Die Tatsache, daß bis auf den heutigen Tag jedem Studierenden eine Nummer zugeordnet wird, die theoretisch von der Gründung der Universität an zählt, macht deutlich, daß er oder sie – und eben auch Sie, liebe Neuimmatrikulierte, in eine Gemeinschaft aufgenommen worden sind, die wir nicht konstituiert haben und die auch nicht aufhört, wenn wir diese Universität verlassen haben. Die Gründerväter unserer Universität haben sie die „Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden“ genannt und ungeachtet aller Unterschiede zwischen Lehrenden und Studierenden, Unterschieden von Alter und Kenntnissen gilt für uns alle, was Wilhelm von Humboldt mit sehr bekannten, aber nicht ganz einfach zu interpretierenden Worten so formuliert hat: Wissenschaft ist „etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Auffindbares“, meint: Wir alle bemühen uns um etwas, das wir nur partiell erkannt haben und ungeachtet aller Anstrengung auch nur partiell erkennen werden. Wenn sich ein Professor mit den Worten vorstellt, daß er nunmehr im vierzigsten Semester studiert, ist das weniger ein geistreicher Scherz, als vielmehr eine nüchterne Beschreibung der Lage – er weiß vermutlich in Prozentzahlen ausgedrückt auch nicht sehr viel mehr als Sie zu Beginn Ihres Studiums, im Gegenteil: einem guten Wissenschaftler und einer guten Wissenschaftlerin werden jede Tag neue dramatische Kenntnislücken deutlich. Jede wissenschaftliche Einsicht verweist in dem Augenblick, in dem sie gemacht wird, auf neue Lücken. Sich bereits am Anfang eines Studiums darauf zu besinnen, daß wir alle einem noch nicht ganz Gefundenen hinterher jagen und es auch nie ganz auffinden werden, tröstet bei den unvermeidlichen Enttäuschungen im Laufe eines Studiums, fordert aber auch heraus, bei Enttäuschungen nicht aufzugeben: Enttäuschung ist bekanntlich das Ende einer Täuschung. Und ausgerechnet von deutschen Idealisten zu lernen, daß Einheit und Ganzheit in der Wissenschaft zwar angestrebt, aber unter irdischen Bedingungen nie erreicht wird, ist ein passabler Schutz vor den ideologischen Letztgeltungsansprüchen rechter wie linker Provenienz, die das Angesicht der deutschen Universität im zwanzigsten Jahrhundert entstellt haben, natürlich und vielleicht gerade auch das Angesicht dieser Universität: Die Bücher brannten auf dem Bebelplatz 1933 im Anschluß an die Antrittsvorlesung eines Pädagogen hier im Hause.

Liebe Neuimmatrikulierte, Sie beginnen Ihr Studium in aufregenden Zeiten. Große Fragen, die die Wissenschaft seit alters her beschäftigen – wie beispielsweise die Frage nach der Freiheit, mit der wir uns für oder gegen etwas entscheiden, werden mit ganz neuen wissenschaftlichen Paradigmen erforscht. Die Folgen für die klassischen Disziplinen, in denen es um Entscheidungen geht – die Wirtschafts-, Sozial- und Rechtswissenschaften, aber auch die Philosophie oder die Theologie sind dramatisch. Müssen wir von den Neurologen lernen, daß unser Gefühl, frei zu entscheiden, eine besonders leistungsfähige Fiktion unseres Gehirns ist? Ist unser Modell vom homo oeconomicus, der sich aufgrund von rational choice für ein bestimmtes Produkt entscheidet und gegen ein anders, ebenfalls eine reine Behauptung über Wirklichkeit? Oder sind vielmehr, wie heute morgen in einer Zeitung zu lesen stand, „manche neuen Ergebnisse der Hirnforschung in Wirklichkeit nur aufgemöbelte alte Hüte der Psychologie“ oder welcher Wissenschaft auch immer? Darf ein Mensch, der in seinen Entscheidungen nicht frei ist, überhaupt für bestimmte Entscheidungen bestraft werden und wenn ja, mit welcher Begründung? Wie auch immer solche spannenden, die Fundamente der klassischen Disziplinen berührenden Kontroversen weiter verlaufen (gelöst werden sie auf absehbare sicher nicht), sie werden das Studium verändern, die Studien- und Examensordnungen, das Curriculum der Fächer in einem weiteren Sinne, die Fächer und Disziplinen selbst. Wir eröffnen in diesem Semester beispielsweise ein Institut für integrative Lebenswissenschaften, in dem aus Geistes- und Naturwissenschaften ein Hybrid, eine neue Interdisziplinarität auf der Basis von strikter Disziplinarität geformt wird. Alle diese Fragen sind der Humboldt-Universität keineswegs durch einen Exzellenzwettbewerb von außen vorgegeben, sondern stehen nicht zuletzt in Ihrem Interesse – im Interesse der exzellenten Ausbildung begabter Studierender – auf der Agenda dieser Universität, auf unser aller Agenda, weil niemanden damit gedient ist, wenn wir die klassische Formel der „Einheit von Forschung und Lehre“ wie eine Monstranz vor uns hertragen, aber in Wahrheit im einen wie im anderen klassischen Betätigungsfeld längst kalter Kaffee ausgeschenkt wird – ich jedenfalls möchte die Einheit von kaltem und lauwarmen Kaffee nicht sehr gern trinken.

Wie wir im Vorfeld unseres zweihundertjährigen Jubiläums die klassischen Ideen einer Humboldt-Universität in das einundzwanzigste Jahrhundert übersetzen, wird während Ihres Studiums immer wieder diskutiert werden, an verschiedensten Stellen, auf verschiedensten Ebenen. Es muß ebenso engagiert wie sensibel diskutiert werden, überhastete Bildungsreformen entsprechen zwar vielleicht einer schlechten deutschen Tradition, sind aber eigentlich nicht Stil der Humboldt-Universität. Daher freut es mich besonders, einen ebenso engagierten wie sensiblen Bildungsreformer als unseren heutigen Festredner begrüßen zu dürfen – Sie waren, lieber Herr Biedenkopf nicht nur Ministerpräsident Sachsens, was vermutlich viele wissen, sondern auch Bochumer Universitätsrektor in den unruhigen Jahren 1967 bis 1969 Rektor der Ruhr-Universität Bochum und zuvor unter anderem Student der Rechtswissenschaften an der Georgetown University zu Zeiten, als ein Auslandsstudium alles andere als selbstverständlich war. Sie sind, wenn ich recht sehe, in allen Ämtern immer auch ein Bildungsreformer geblieben, mit langem Atem und an sehr unterschiedlichen Baustellen dieses Landes, aber stets mit höchst anregenden und ein gutes Stück unkonventionellen Ideen zur Sache. Daß Sie, lieber Herr Biedenkopf, auch im politischen Amte nie ganz von der Wissenschaft gelassen haben, machen nicht nur vier Ehrendoktoren deutlich, sondern auch diverse Artikel und Monographien zu sozialpolitischen Themen. Wenn Sie in einem neuen Buch die Frage stellen (und zu beantworten versuchen), warum „wir als Volk so unsicher und so ängstlich geworden sind, obwohl unser Lebensstandard noch nie so hoch und unsere Möglichkeiten noch nie so zahlreich waren wie heute“, dann muß man nicht lange überlegen, um zu erkennen, daß die Universitäten dieses Landes selbstverständlich auch einen Teil dieser deutschen Misere bilden (man muß ja nur einmal eine rumänische oder afrikanische Universität von innen gesehen haben) und zugleich im Besonderen dazu aufgerufen sind, an der Therapie mitzuwirken. Sie schrieben mir: Welche Bedeutung all dies für die jungen Leute haben wird, die sich anschicken, an der Humboldt-Universität zu studieren, diese Frage vor allem möchte ich in meinen Ausführungen behandeln. Schon deswegen meine ich, in aller Namen zu sprechen, wenn ich sage, daß wir uns auf Ihren Vortrag schon sehr freuen, Ihren Vortrag, um den ich Sie jetzt bitte.

Warum verleiht eine Universität Preise? Sie verleiht Preise, um besondere Leistungen auszuzeichnen und damit in einer zunehmend unübersichtlicheren Welt Vorbilder herauszustellen, an denen beispielsweise Sie, liebe Neuimmatrikulierte, sich orientieren können. Sie verleiht aber auch Preise, um uns alle neugierig zu machen, aus dem so verbreiteten Fachidiotentum herauszuholen und über state of the art anderer Disziplinen zu orientieren – nutzen Sie doch die Gelegenheit beim anschließenden Empfang, die Preisträger auf Leben und Werk anzusprechen und zu befragen, was beispielsweise „heterodinukleare Molybdäne“ sind oder, so Sie es nicht wissen, koscheres Leben in Berlin. Wer einen Preis erhalten hat, hat nicht nur die Anerkennung – er hat auch ein wenig Mittel, bescheiden wie die Haushaltslage des Landes Berlin und die Haushaltslage dieser Universität, um gleich weiterzuforschen, ein Buch über koscheres Leben in London beispielsweise zu kaufen oder über monodinukleare Polybdäne, wenn es das denn überhaupt gibt und die Fachleute ihren Präsidenten nun nicht für einen klassischen geisteswissenschaftlichen Ignoranten halten müssen.

Mein lieber Herr Prömel,

es gibt, wie Sie wohl wissen, höchst ambivalente Momente im Leben eines deutschen Professors. Der vielleicht ambivalenteste ist jener, wenn ein Nachwuchswissenschaftler, der am Lehrstuhl ausgebildet wurde und dort lange geforscht hat, in die große weite Welt zieht, um nun selbst Nachwuchs auszubilden. Dann ist man sehr traurig darüber, daß ein bewährtes Mitglied eines Teams von dannen zieht und freut sich zugleich sehr darüber, daß er nun flügge geworden ist und in die große weite Welt zieht. Selbstverständlich werde ich, lieber Herr Prömel, den älteren und erfahreneren Kollegen nicht als Nachwuchswissenschaftler bezeichnen (das bin ich dann noch eher als Sie), aber mit dem Stichwort „Nachwuchs“ liegen wir schon ganz richtig und die Gefühlslage nicht nur des Präsidiums habe ich wohl treffend beschrieben: das berühmte lachende, aber auch das weinende Auge. Denn zusätzlich zu den klassischen Aufgaben eines Vizepräsidenten für Forschung haben Sie sich insbesondere den Nachwuchs angelegen sein lassen, die Einführung der Juniorprofessuren, die Reform des Promotionsstudiums und die Etablierung der Humboldt Graduate School mit großer Energie betrieben – wer je einmal unsere Juniorprofessorinnen und –professoren um Sie geschart sah, ahnt, wie sehr diese verheißungsvollen Nachwuchswissenschaftler unserer Universität Sie als ihren persönlichen Mentor und Ratgeber empfunden haben. Auch mein Amt, das Präsidentenamt, haben Sie in schwierigen Zeiten hoch engagiert und mit respektablen Ergebnissen zusätzlich zu dem Amt eines Vizepräsidenten für Forschung – und Nachwuchs, wie man eigentlich sagen müßte, verwaltet. Und wenn man dann noch weiß, daß Sie zur selben Zeit nach Sprecher der DFG-Forschergruppe Alogarithmen, Struktur und Zufall, Mitglied des Präsidiums der Deutschen Mathematiker-Vereinigung und Mitglied des wissenschaftlichen Rates des DFG-Forschungszentrums Matheon waren, dann ahnt man, was für Zeit und Kraft Ihres Lebens an diese Universität und deren Projekte gegangen ist – liebe Frau Prömel, herzlichen Dank, daß Sie das zugelassen haben. Besonders verschmitzt haben Sie immer dann gelächelt, wenn Sie beispielsweise im Präsidium eine groteske mathematische Fehlkalkulation beispielsweise über Studierendenzahlen richtig stellen konnten, die irgend jemand schlampig erarbeitet hatte oder sonst irgendeine Ihre ziselierten, höchst präzisen Überlegungen vorgetragen haben. Nicht nur dieses verschmitzte Lächeln des Kollegen, der davon überzeugt ist, daß Präzision und Handwerk allemal am Weitesten bringen, werden wir vermissen und gönnen den Darmstädtern ihren neuen Präsidenten zunehmend neidloser, wenn auch keineswegs vollkommen neidlos. Ich stelle, lieber Herr Prömel, namens der Humboldt-Universität zu Berlin fest: Sie haben sich um diese Universität verdient gemacht. Und überreiche Ihnen dafür der Zeichen zween.

Was Immatrikulation bedeutet, liebe Neuimmatrikulierte, sollte klar geworden sein und muß nicht nochmals wiederholt werden. Die Gemeinschaft neugieriger, selbstbewußter und zugleich auch demütiger Lehrender und Lernender muß gelebt werden, meint: eine Immatrikulation muß vollzogen werden. Und so bitte ich nun Frau Karen Bähr und Herrn Stefan Möblitz, sich stellvertretend für Sie alle hier als Studierende in die große Liste der Studierenden der Humboldt-Universität einzuschreiben.

Was wären Studierende und was Neuimmatrikulierte ohne eine Studierendenvertretung, die auf Mängel und Probleme einer Universität nötigenfalls deutlich hinweist und zu deren Behebung gemeinsam mit allen die notwendigen Schritte ergreift. Silvya Gruß, die Sozialreferentin des Referentinnenrates – anderswo heißt das: ASTA – und ihre Kollegin Lena Müller, Referentin für Hochschulpolitik, werden nun das Wort an sie richten.

Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität

 

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