Lesung aus den Tagebüchern Harry Graf Keßlers von Bundesminister Peer Steinbrück und Karin Hempel-Soos
Sehr verehrter Herr Bundesminister,
sehr geehrte Frau Hempel-Soos,
verehrte Damen und Herren,
„Sinngebung der Zeit aus der Perspektive einer Persönlichkeit“ – mit diesen programmatischen Worten hat Harry Graf Keßler im April 1932 erste Überlegungen zur Technik des Schreibens von Memoiren eingeleitet: „Sinngebung der Zeit aus der Perspektive einer Persönlichkeit. Eben darum Perspektive, Rangordnung der Dinge und Geschehnisse im Hinblick auf die Persönlichkeit und ihr Drama, ihre wechselnden Situationen, ihre Tragik oder Tragikomik“ (Katalog Marbach, 494). Wir freuen uns, verehrter Herr Bundesminister, sehr geehrte Frau Hempel-Soos, daß sie heute hierher gekommen sind, um aus den Tagebüchern des „homme de lettres“ „Harry Clément Ulrich Comte de Kessler“ zu lesen, wie es auf der Anzeige heißt, die im November 1937 den Tod des Grafen im französischen Exil anzeigt.
Bekannt geworden als lesendes Paar sind sie, lieber Herr Steinbrück
und liebe Frau Hempel-Soos, mit einem Abend zum berühmten Briefwechsel
zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger – erotische Eskapaden eines
deutschen Akademikers in eigens entworfener hessischer Trachtenjoppe,
Texte, die sich kaum vergleichen lassen mit den Notaten Keßlers, der
zwar nie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität studiert hat,
unserer Vorgängereinrichtung (vielmehr an der Bonner
Schwesteruniversität), aber nach seiner Zeit als Potsdamer
Einjährig-Freiwilliger seit 1893 sich oft hier in der Nähe aufhielt –
das Weinrestaurant „Zum Schwarzen Ferkel“, Unter den Linden Ecke Neue
Wilhelmstraße, wird mindestens den Kennern der Genossenschaft „Pan“
vertraut sein. Die Milieus des jungen Marburger Dozenten Heidegger und
des jungen Berliner – Verzeihung: Spandauer – Gerichtsreferendars
Keßler lassen sich kaum vergleichen: Zwischen dem hessischen Maler Otto
Ubbelohde, der Heideggers Trachtenjoppe entwarf, und dem Hofbildhauer
Reinhold Begas, in dessen Salon Keßler für Genossenschaft und
Kunstzeitschrift „Pan“ geworben wurde, klafften denn doch Welten,
zwischen dem Getriebe in der Köthener Straße am Potsdamer Bahnhof, wo
Keßler bereits 1897 in Van-de-Velde-Mobiliar wohnte, und dem
beschaulichen Landuniversitätsstädtchen Marburg lassen sich nur schwer
Parallelen ziehen. Allenfalls über Friedrich Nietzsche, den Keßler in
seiner Autobiographie von 1935 ex post höchst kritisch als
„Rattenfängergenie“ bezeichnet (283) könnte man Verbindungen
herstellen: „Seit Byron hatte kein Rattenfängergenie so unwiderstehlich
die Besten einer ganzen Jugend hinter sich gezogen“, schreibt Keßler,
„er stellte uns in ein neues geistiges Klima“.
Man ahnt auch als Präsident einer Hochschule und als Theologe, der selbstverständlich von Berufs wegen nur Keßlers Versuch einer religiösen Überhöhung seines Innenarchitekten van de Velde unter dem Titel „Kunst und Religion“ kennt, was eine Schriftstellerin und einen Politiker an Harry Graf Keßler fasziniert: Hofmannsthal höhnt über die „zehntausend Bekannten“, die sich im Tagebuch finden, der Korbmacher-Verein Tannroda möchte Teil der Weimarer Kunstgewerbebewegung werden, Max Reinhardt und Edvard Munch sitzen in der Cranachstraße 15 und irgendwo im Bücherregal steht bis heute in deutschen Bildungshaushalten noch ein Bändchen der „Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe deutscher Klassiker“; aber eben auch mehr als nur ein homme de lettres in bekannt deutscher Politikdistanz, ein Politiker, der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges einen Plan zu einem Völkerbunde auf Grund einer Organisation der Organisationen (Weltorganisation) entwarf. „Ohne eine alles umfassende Weltorganisation kann die Zerrüttung der Weltwirtschaft und des öffentlichen Geistes der Welt nicht behoben werden“, heißt es in den Leitsätzen, die die Richtlinien für einen wahren Völkerbund eröffnen; der „rote Graf“ wird zum Spitzenkandidat der Deutschen Demokratischen Partei und spricht in Bad Oeynhausen.
Wir freuen uns, lieber Herr Steinbrück und liebe Frau Hempel-Soos,
daß sie Texte eines Menschen in Erinnerung rufen, der sich zeitlebens
in einem Zustand der Isolation wähnte und selbst als „Prediger in der
Wüste“ bezeichnete [1] und sich doch vor Bekannten
nicht retten konnte; ein Museumsdirektor, der das klassische Museum als
Ort touristischer Neugier kritisiert, ein nach täglichen Quengeleien
entlassener Museumsdirektor, der doch in Weimar bleibt und schon 1906
nicht glaubt, „daß das Auflösen meiner offiziellen Verbindung mit dem
Hof den Kreis, den wir dort gebildet haben, irgendwie zu tangieren
braucht“ (Katalog, 198). Ein Kreis, in dem es immer wieder zu
Verwerfungen kommt: „Daß zwischen uns, das heißt von dir zu mir,
Freundschaft niemals bestehen kann“, schreibt Hofmannsthal an Keßler am
29. Oktober 1910. Von Richard Demel stammt schon aus dem Jahre 1901
folgende Charakteristik der Tagebücher: „Ich meine, Sie werden die
Memoiren unserer Zeit schreiben. Da ist es gerade richtig für Sie, daß
Sie alle Leute, die etwas bedeuten, in allen Lebenslagen kennenlernen
müssen. Ich beneide unsere Enkel darum, dass sie das lesen können“. [2]
Wir können es nicht nur lesen, sondern bekommen es
vorgelesen. Mir scheint, daß spätestens dann klarwerden muß, daß Hugo
von Hofmannsthal nicht recht hat: Die Keßlersche Geschichte ist nicht
schrecklich. Sie ist anregend, erschreckend, aufregend, bestürzend,
bewegend, bestürzend aktuell – haben sie herzlichen Dank, daß sie uns
das erneut klarmachen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität