Humboldt-Universität zu Berlin

Humboldt-Rede zu Europa von Angela Merkel

Grußwort vom 27. Mai 2009

Als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, meine Damen und Herren und insbesondere verehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Frau Merkel, waren bislang Rechtsanwälte beim Oberlandesgericht wie Konrad Adenauer tätig, Leiter von Forschungsinstituten der Wirtschaft wie Ludwig Ehrhard, Journalisten wie Willy Brandt und Diplomvolkswirte wie Helmut Schmidt. Sie sind die erste Naturwissenschaftlerin in diesem Amt - und die Frage liegt nahe, ob es Folgen für dieses Amt hat, wenn jemand es ausübt, der in Berlin-Adlershof chemische Reaktionen nicht im Experiment nachvollzogen, sondern mathematisch simuliert hat, der die Welt nüchtern zu berechnen versteht. Ist man als chemische Physikerin von Berufs wegen pragmatischer als der politische Journalist? Für unkonventionelle Lösungen aufgeschlossener als der Verwaltungsjurist? Und ist man, an das Arbeiten im Team ganz selbstverständlich gewohnt, weniger professoral als der Honorarprofessor für Wirtschaftswissenschaften? Ganz gewiß bin ich nicht der erste Mensch auf Gottes Erdboden, der diese Frage aufwirft; eine Bundeskanzlerin, ihre Worte, ihr Handeln, werden ständig gedeutet, von politischen Journalisten gedeutet, von Professoren.

Wir fühlen uns geehrt, liebe Frau Merkel, daß dieses Deutungskarussell berufener und unberufener Interpreten heute zunächst einmal unterbrochen wird und sie zu einem zentralen Thema, das uns hier an der Humboldt-Universität am Herzen liegt, das Wort ergreifen und es aus Ihrer Sicht interpretieren. Wenn eine Universität nicht Forschung im Elfenbeinturm treiben will, sondern mitten in der Gesellschaft, die sie ja schließlich finanzieren soll, dann muß sie zur Kenntnis nehmen, wie die Politik magistrale Forschungsgegenstände (wie eben den weiteren europäischen Einigungsprozeß) behandelt - und kann erst dann versuchen, Politik bei ihrem nicht ganz einfachen Geschäft wissenschaftlich zu beraten. Es ist daher wunderbar, daß im Rahmen der Humboldt-Reden zu Europa seit einigen Jahren Politiker (und Politikerinnen) von Rang und Einfluß sprechen, ausländische wie deutsche und wäre unnatürlich, wenn ausgerechnet die Bundeskanzlerin in dieser Reihe fehlen würde. Dem krankheitshalber verhinderten Europarechtler Ingolf Pernice und seinem freundlich eingesprungenen Kollegen Georg Nolte ist dafür ganz, ganz herzlich zu danken.

Natürlich, verehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Frau Merkel, hätte eine Universität auch tausend andere Dinge mit Ihnen zu bereden - aber Sie wissen aus familiären Kontexten ja nur zu gut, daß für die Bildungsrepublik Deutschland noch wichtiger als zügig bereitgestellte Abwrackprämien die noch in dieser Legislaturperiode bewilligten Aufbauprämien von Hochschulpakt und Exzellenzinitiative sind, nicht zuletzt als politisches Signal für den Fortbestand der Bildungsrepublik in Krisenzeiten. Aber: Wem sage ich das? Wie es in Berlin-Adlershof nach 1990 weiterging, ist Ihnen ja auch nach Ihrem Wechsel in die Politik, der, wenn ich recht sehe, als ehrenamtliche EDV-Administratorin begann, nicht gänzlich verborgen geblieben, um es ganz vorsichtig zu formulieren. Nein, bei dieser kurzen Erinnerung an Bekanntes möchte ich es jetzt bewenden lassen, denn wir freuen uns auf Unbekanntes, Neues von Ihnen zum großen europäischen Thema, in zwei Abschnitten: Zuerst werden Sie zu uns sprechen, dann für eine kurze Fragerunde zur Verfügung stehen. Frau Bundeskanzlerin, es ist uns eine Ehre, daß Sie eine europapolitische Grundsatzrede in einem solchen Haus der Wissenschaft halten und daß Sie sie bei uns halten. Herzlich willkommen.


Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität