Grußwort anlässlich der Antrittsvorlesung von Martin Sabrow an der Humboldt-Universität zu Berlin
Kurz vor dem Wissenschaftskolleg zu Berlin, sehr verehrte, liebe Frau Kollegin Metzler, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, kurz vor dem Wissenschaftskolleg in der Wallotstraße macht die Koenigsalle eine relativ scharfe Kurve – man ist als Autofahrer allein durch die Verkehrssituation, nicht nur durch das Verkehrsschild, gezwungen, das Tempo zu drosseln, um an der Ecke der Kreuzung zur Erdener und zur Wallot-Straße nicht aus der Kurve zu fliegen. Natürlich wissen alle, die hier und heute im Raum sitzen, daß am frühen Vormittag des 24. Juni 1922 Josef Prozeller, der Chauffeur des Reichsaußenministers Rathenau, wie alle anderen Autos in der nämlichen scharfen Kurve mit ihrer unübersichtlichen Kreuzungssituation scharf abbremsen mußte und auf diese Weise den Autos mit den Mördern des Ministers Gelegenheit zum Schießen und zum Werfen der Eierhandgranate gab. Die Detonation hörte im nahegelegenen Grunewald-Gymnasium, das kaum einen Steinwurf von der nun schon mehrfach erwähnten Kurve entfernt liegt, der junge Berliner Schüler Dietrich Bonhoeffer aus der Wangenheimstraße – und wenn er seine Biographie später nicht zu sehr stilisiert hat, löste der politische Mord im liberalen Haus des großen Charité-Ordinarius Karl Bonhoeffer nicht geringe Bestürzung aus, die sich auch dem damals sechszehnjährigen Oberschüler durchaus vermittelte.
Sie ahnen, sehr verehrte Damen und Herren, warum ich so ausführlich von einer Straßenkurve gesprochen habe und dem politischen Mord, den diese Straßenkurve gewissermaßen erst möglich, jedenfalls erst so effektiv möglich machte, daß das Mordopfer sehr kurz nach dem Anschlag, noch auf dem Weg zum Haus seinen Verletzungen erlag. Darum, weil Martin Sabrow, der heute seine Antrittsvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität hält, darüber 1994 seine Dissertation und 1998 ein – wenn man das angesichts der trüben Materie sagen darf – geradezu schwungvolles Fischer-Taschenbüchlein geschrieben hat. Das Exemplar meiner Bibliothek trägt ein Datum aus dem Jahre 2006, zu einem Zeitpunkt, als ich noch nicht einmal ein volles Jahr als Präsident der Humboldt-Universität wirkte. Heute nach knapp fünf Jahren, kurz vor dem Ende meiner Amtszeit, wird nun feierlich besiegelt, was damals – anläßlich der Widmung des Buches über den Rathenau-Mord, erstmals ausführlicher besprochen und verabredet wurde – die Berufung des Direktors des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung an die Humboldt-Universität auf eine der berühmten Berliner „Sonder-Professuren“, kurz: „S-Professuren“, in diesem Fall eine Professur für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte.
Es entspräche weder dem Genre einer akademischen Antrittsvorlesung, wenn der Präsident den Professor nun vorstellen würde, noch darf ein Ordinarius für antikes Christentum wagen, die Veröffentlichungen eines Zeithistorikers vorzustellen und damit, ob er will oder nicht, zu bewerten beginnen. Wohl wagen wir Kirchenhistoriker noch etwas, was die sogenannten „Profanhistoriker“ längst vermeiden, den Sprung durch die Epochen mindestens im Rahmen der Vorlesungen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ein Differenzierungsprozeß der allgemeinen Geschichtswissenschaft bei uns nicht (wieder einmal, um der Wahrheit die Ehre zu geben) verspätet ankommt – mindestens meine jüngeren Kollegen lesen den berühmten Zyklus, der die Geschichte des Christentums vom globalisierten römischen Weltreich in fünf oder sechs Epochenvorlesungen bis nach Berlin-Dahlem verengt, schon nicht mehr vollständig. Also: Ich darf es nicht wagen, Martin Sabrow vorzustellen, zu berichten, wie ihn sein Lebensweg von Kiel und Marburg nach Berlin, an eine Berliner Schule, an das Potsdamer Zentrum, an die Universität Potsdam und schließlich hierher zu uns führte, auf Gastprofessuren in Braunschweig, London und Bologna; vor allem aber nicht wagen, das reiche Panorama der Veröffentlichungen zwischen Jakob Gundling, dem Akademiepräsidenten, der in Bornstaedt bei Potsdam im Weinfaß endete oder jedenfalls geendet haben soll, und der Geschichte der jüngsten Vergangenheit anzublättern, aufzublättern und im Portrait durchzublättern, weil ich mich dann – Sie verzeihen den billigen Kalauer – vor Ihnen allen als Dilettant entblättern könnte. Macht doch die Lektüre der wunderbaren Passagen Fontanes über den armen Gundling aus einem althistorisch arbeitenden Theologen noch keinen Frühneuzeithistoriker und die Herausgeberschaft eines im Druck befindlichen Bandes über die „Erinnerungsorte des Christentums“ aus einem Kirchenhistoriker noch keinen Experten für Gedächtnisgeschichte.
So halte ich in meinem präsidialen Grußwort zu dieser Antrittsvorlesung auch nur ganz bescheiden zwei meiner eigenen Eindrücke von Martin Sabrow fest, die ich in den letzten Jahren gewonnen habe. Seitdem ich im Kuratorium des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung Sitz und Stimme habe, beeindruckt mich insbesondere die Nachwuchsarbeit unseres neuen Professors für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte. Auf der Homepage des ZZF findet sich die höchst eindrucksvolle Phalanx der Nachwuchswissenschaftler, die an dieser Einrichtung ausgebildet werden. Sechsundzwanzig zählte ich heute Morgen beim Versuch, schlaftrunken eine Homepage auszuwerten. Ein Doktorandenkolloquium, dazu Doktorandenforum und Doktorandenkolleg werden offeriert und wenn ich recht sehe, eine Fülle von Tagungen und Konferenzen dazu, einige auch hier in der Humboldt-Universität: Den Kommunismus erzählen, diesen Titel habe ich mir gemerkt, weil er eine der vielen Interessen von Sabrow trifft: Wie wird Zeitgeschichte erzählt, nach welchen Gesichtspunkten und vor allem auf welcher Basis.
Und damit bin ich bei einem zweiten Eindruck: Erinnerungen. Ich habe, ich darf es heute abend ehrlich gestehen, immer mit großem Unwillen die Versuche zur Kenntnis genommen, im Rahmen der sogenannten Gedächtnisgeschichte Begriffe und Paradigmen zu bilden und hegemonial im Diskurs zur Geltung zu bringen – das sind dann die Momente, in denen ich den unendlich mißbrauchten und unverstandenen Humboldt-Formeln wie „Einsamkeit und Freiheit“ doch einen unmittelbaren Sinn abgewinnen kann: Bitte Einsamkeit angesichts der Tausenden Bücher und Broschüren zum Thema, Freiheit von diesem Paradigma und nicht schon wieder ein „Speichergedächtnis“ und so weiter und so fort, zumal der Altkirchenhistoriker bescheiden darauf hinweist, daß der nordafrikanische Kirchenvater Augustinus im Grunde in seiner herausragend präzisen Analyse des Gedächtnisses in den „Bekenntnissen“ alles eigentlich schon in recht schlichter Terminologie beschrieben hat. Aus meiner Müdigkeit in Sachen Gedächtnisgeschichte hat mich Martin Sabrow aufzuwecken vermocht, in einer Podiumsdiskussion, in der er mit einer der Protagonistinnen dieser Richtung höchst kritisch umging und präzise analysierte, wo die Probleme lagen, dann aber auch in einer Podiumsdiskussion zu Beginn dieses Semesters über seinen Sammelband „Erinnerungsorte der DDR“: Hellsichtig, präzise und materialreich analysierte er die Formen der Erinnerung und des Gedächtnisses, fern jeder bloßen Mode eines Forschungsparadigmas.
Und so, meine Damen und Herren, wünschen wir uns doch die Zeitgeschichte. Ich werde mich hüten, jetzt als Präsident der Humboldt-Universität über die jüngste Vergangenheit im Osten dieses Landes öffentlich zu sprechen, weil ich dann die Diskussion über meinen Nachfolger öffentlich kommentieren müßte – aber es ist ja deutlich, daß insbesondere die Zeitgeschichte ein Höchstmaß an methodischer Sensibilität und historiographischer Präzision braucht, um es etwas flapsig zu sagen: Spätantike ist weniger umstritten, da die meisten Protagonisten eben schon gestorben sind und der Konflikt zwischen Selbst- und Fremddeutung nicht mehr auf dem Forum der Zeitgenossen oder, wie man bei Ihnen fachspezifischer sagt, der Zeitzeugen ausgetragen werden muß. Es hängt eben mindesten genauso viel davon ab, wie man über Vergangenheit nachträglich redet, wie vom Verhalten in eben dieser Vergangenheit. Und der Untiefen, in die man stürzen kann, sind viele, für die Zeitgenossen wie für die Zeithistoriker, aber wem sage ich das. Martin Sabrow reflektiert über sorgsames Reden in der Zeitgeschichte, er hält, indem er darüber reflektiert, auch uns dazu an, die wir als Zeithistoriker dann und wann dilettieren und er setzt Maßstäbe bei der Nachwuchsausbildung und – fast schäme ich mich, dies zu sagen in der allgemeinen Euphorie der Tonnage-Ideologie an deutschen Universitäten – auch Maßstäbe bei der Drittmitteleinwerbung. Da lag es – to cut a long story short – nahe, ihn für diese Universität zu gewinnen und die Fäden zwischen unserem herausragenden Historischen Institut und seinem feinen Zentrum für Zeithistorische Forschung noch enger zu knüpfen. Mich erfüllt es mit großer Befriedigung, daß heute feierlich bekräftigt wird, was wir 2006 überlegten. Namens der Humboldt-Universität heiße ich Sie, lieber Herr Sabrow, nochmals und feierlich hier Unter den Linden willkommen.