Humboldt-Universität zu Berlin

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Verleihung der Ehrendoktorwürde an Rabbiner Ernst Stein an der Humboldt-Universität zu Berlin

Grußwort vom 23. November 2009

Leider existiert keine Zusammenstellung der Ehrendoktoren aus zweihundert Jahren Geschichte dieser Universität, verehrte, liebe Frau Süßkind, verehrter, lieber Bischof Dröge, Spectabilis Wegener, Frau von Braun, meine Damen und Herren, aber nicht zuletzt und ganz besonders: lieber, verehrter Rabbiner Stein. Ja, uns fehlt peinlicherweise eine Zusammenstellung der Ehrendoktoren aus zweihundert Jahren und so kann ich die Frage, wie viele Rabbiner die Berliner Universität in ihren zweihundert Jahren Geschichte ausgezeichnet hat, nicht ganz präzise beantworten. In der Mitte der 1990er Jahre zumindest wurde der aus Deutschland stammende Rabbiner Gunther Plaut mit dieser Auszeichnung bedacht. Ich kann es mir auch ohne zuverlässige Unterlagen für die Zeit vor dem Nationalsozialismus nicht recht vorstellen, dass zu dieser Zeit Rabbiner einen Ehrendoktor an dieser Universität erhalten haben, denn warum sollte die Berliner Universität ausgerechnet die Repräsentanten einer Religion auszeichnen, deren Angehörige hier über lange Zeit nur um den Preis der Konversion Professoren werden durften und sich auch dann noch Diffamierungen anhören mussten, der Name des Historikers Treitschke mag für viele stehen. Daß zwischen 1933 und 1989 Rabbiner hier Ehrendoktorwürden erhielten, mag ich auch kaum glauben, selbst wenn es ja zu DDR-Zeiten immer wieder Versuche gab, das - vorsichtig gesagt - ziemlich ambivalente Verhältnis des Staatssozialismus zum Judentum zu korrigieren. Und genauso wenig kann man sich vorstellen, daß die Dozenten der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die sich ja nur die kürzeste Zeit ihrer Existenz von 1920 bis 1934 "Hochschule" nennen durfte, ihre Kollegen jenseits der Spree besuchten und um den Vollzug einer Ehrendoktorwürde baten, die ihnen selbst schon aus Gründen des Status ihrer Einrichtung verwehrt war. Und die kluge Dozentenschar der Einrichtung in der Artilleriestraße 14, der heutigen Tucholskystraße 9, kam in der damaligen Sicht unserer Universität nicht für entsprechende Ehrungen in Frage: Leo Baeck hatte 1895 in Berlin bei Dilthey promoviert, Ismar Elbogen, der 1919 zum Professor ernannt wurde, promovierte 1898 bei Jakob Freudenthal in Breslau - Ehrendoktoren erhielten beide erst, nachdem sie Deutschland verlassen hatten. Gleiches gilt natürlich für die Studenten der Hochschule: Emil Fackenheim, den ich in Jerusalem 1984 erstmals wieder öffentlich Deutsch habe sprechen hören, wurde erst lange nach seiner Promotion Ehrendoktor der Universitäten Duisburg und Halle.

Nehmen wir also bis zu besserer historischer Belehrung einmal an, daß wahr sei, was leider vermutlich wahr ist: Daß diese Universität in ihrer zweihundertjährigen Geschichte noch nicht sehr viele Ehrendoktorwürden an einen Rabbiner verliehen hat, aber dafür eine erkleckliche Zahl an evangelische Pfarrer und einige vermutlich auch an katholische Priester. Deswegen freut es mich besonders, daß der neue evangelische Bischof von Berlin, Markus Dröge, uns die Ehre seines ersten Besuchs an dieser Universität ausgerechnet heute erweist. Sie haben, lieber Herr Rabbiner Stein, einmal gesagt, daß Sie sich manchmal vorkommen "wie der letzte Dinosaurier" - heute gilt das gewiß nicht, denn Sie sollen ja nicht der letzte, sondern der erste Rabbiner sein, den wir auszeichnen: vivant sequentes. Denn wenn wir es bei dieser einen Ehrung belassen würden und dächten, wir hätten damit unsere Pflicht und Schuldigkeit getan - ja, lieber Herr Stein, dann träfe uns hier an dieser Universität ein Satz, den Sie einmal pointiert in einem Interview formuliert haben: "Ich will nicht der Indianer, die ‚edle Rothaut' der Bundesrepublik sein". Zur ‚edlen Rothaut' wären Sie geworden, wenn von der großen jüdischen Tradition dieser Stadt, ihren verschiedenen Gemeinden und Rabbinern, die hier einst lebendig waren, nur ein paar verstreute Erinnerungen und einige wenige einzelne Personen bleiben würden. Aber - Gott sei Dank! - ist dem ja nicht so. Als ich vor vielen Jahren in Jerusalem studierte, zitierte einer meiner dortigen Dozenten den Satz seiner Großmutter aus einer kleinen jüdischen Gemeinde in der Oberpfalz: "Wie sich's christelt, so jüdelt sich's auch". Und so gibt es in dieser Stadt nun nicht mehr nur diverse christliche Gemeinden, Gruppen und Aktivitäten, sondern inzwischen auch wieder ein ziemlich buntes, vielfältiges Leben und für diese nach den schrecklichen Ereignissen ganz unverdiente Gnade können wir alle ja nicht genug dankbar sein. Die goldene Kuppel der Synagoge in der Oranienburger Straße leuchtet als ein Zeichen dieses nach der Wiedervereinigung kräftig aufgeblühten Lebens über der Stadt. Ich wünsche mir, daß auch unsere Humboldt-Universität noch viel mehr als bisher ein Ort aufblühenden jüdischen Lebens wird - das in diesem Jahr gegründete "Kollegium jüdische Studien" kann ja nur ein erster Anfang sein, für den Christina von Braun und Julius Schoeps gleichwohl sehr, sehr herzlich zu danken ist -, eine veritable Fakultät wäre schon schön und ein paar Professorinnen und Professoren mehr dürfen es ruhig sein.

Nun, lieber Herr Rabbiner Stein, fügen wir erst einmal Sie nach alter Tradition in unseren Lehrkörper ein, indem wir Sie zum Doktor ehrenhalber promovieren. An diesem Akt erkennen Sie (wie beispielsweise auch an den Ehrungen für den Schriftsteller Hans Keilson oder den Kritiker Marcel Reich-Ranicki), daß sich die Humboldt-Universität nicht nur mit ihrer stellenweise einfach nur schrecklichen Vergangenheit auseinandersetzt und sie im Gedächtnis der Universität präsent halten will, sondern an vielfältigen Begegnungen mit dem ebenso vielfältigen Judentum unseres Landes und weit darüber hinaus lebhaft interessiert ist, damit das nicht Erinnerungen an - um Ihre Wortwahl aufzugreifen - längst vergangene Dinosaurier- und Indianerzeiten bleiben. Vielfalt ist gefragt. Mich haben bei der Vorbereitung Ihre sensiblen Analysen zu diesem Thema beeindruckt, die weit von der hierzulande inzwischen selbst unter Wissenschaftlern üblichen Routine beim Reden über das Gedenken entfernt sind. Wahrscheinlich muß man eine solche Fülle von Berufsfeldern und Lebenskontexten wie Sie kennengelernt haben, damit man die komplexe emotionale Gemengelage deutscher Gedenkkultur so beschreiben kann: "Da ist diese Kluft, die aus Haß und Liebe, aus Angst und Beklemmung, aus Geschehen und Erlebtem, aus ‚Wissen wollen' und aus Tabus, aus besser ‚nicht wissen wollen' und aus Abstand und vielem anderen besteht". Sie haben in diesem Zusammenhang dafür plädiert, daß in den Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen und Vermittlungsinstanzen angesichts solcher Befindlichkeit kein normiertes Einheitsjudentum präsentiert wird, sondern dessen lebendige Vielfalt, insbesondere die lebendige Vielfalt des lokalen Judentums: "Letztlich muß das Wissen aus ihm selber kommen und zwar ‚lokal' aus ihm selber. Denn dieses ‚Judentum', wie verallgemeinert es so leichtfertig daher gesagt wird, gibt es nicht, sondern hat überall seine lokalen Eigenheiten … Bei der Darstellung z.B. des Sabbats sollte nicht die Feier im ultraorthodoxen Mea Shearim im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage, wie Juden vor Ort Sabbat feiern. Dies impliziert, jüdisches Leben in Deutschland auch als Teil deutscher Kultur sichtbar zu machen".

Wir stellen uns, meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Rabbiner Stein, unserer Geschichte tatsächlich ja nur, wenn wir diese lokalen Eigenheiten in Vergangenheit und Gegenwart aufmerksam studieren - und ich füge als evangelischer Theologe hinzu: Wir führen auch das christlich-jüdische Gespräch dann und nur dann ehrlich und weiterführend, wenn wir unsere jeweiligen Eigenheiten (denn auch hier gilt ja: Wie sich's jüdelt, so christelt sich's auch) nüchtern studieren, bilanzieren, analysieren, schöpferisch und originell neu interpretieren, so, wie man das von Ihnen lernen kann. Das vielleicht schönste Zeichen dieser ebenso notwendigen wie hilfreichen Vielfalt ist, wenn ich ihnen, verehrte Damen und Herren, lieber Rabbiner Stein, zum Schluß zwei Grüße ausrichte, die mich in den vergangenen Tagen erreicht haben. Der Vorstand der Synagogengemeinde Adass Jisroel schreibt: "Aus einer Bekanntschaft von 30 Jahren und im Namen des Vorstandes der jüdischen Schwestergemeinde, der Israelitischen Synagogen-Gemeinde (Adass Jisroel) zu Berlin, möchten wir Herrn Rabbiner Stein herzlich zu der Verleihung der Doktorwürde gratulieren und ihm ad mea we-essrim shaná, bis 120 ! wünschen". Und Baruch Tenembaum, der Gründer der International Raoul Wallenberg Foundation, hat uns alle auf die Tatsache aufmerksam gemacht, daß wir eben diesen Wunsch, ad mea we-essrim shaná, auch an Nathan Peter Levinson richten dürfen, einen ehemaligen Schüler des Gymnasiums zum Grauen Kloster, Studenten der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und Berliner Landesrabbiner, der für Ihren Entschluß, Rabbiner zu werden, von zentraler Bedeutung war - feiert er doch heute Geburtstag.

Mea we-essrim shaná: Die ganze Universität freut sich, daß Sie die Würde eines Doktors der Philosophie ehrenhalber annehmen, wir alle und so auch ich hoffen, Sie hier noch möglichst oft, bei guter Gesundheit begrüßen zu dürfen. Vielen Dank.


Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität