Humboldt-Universität zu Berlin

Berliner Universitätsreformer aus zweihundert Jahren

Rede zur Inauguration als Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Februar 2006 [1]

(Es gilt das gesprochene Wort)

Herr Altbundespräsident, Herr Regierender Bürgermeister, Frau Bürgermeisterin, Herr Staatssekretär, meine Damen und Herren Abgeordnete, Exzellenzen, verehrter Herr Ratsvorsitzender, Kollegen im Rektoren- und Präsidentenamte, Spectabilitäten, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende, meine Damen und Herren,

 

von einem frisch inaugurierten Präsidenten erwarten vermutlich alle einige wegweisende Worte zur Situation der deutschen Universität, programmatische, womöglich visionäre Äußerungen zur Lage und Zukunft seiner eigenen alma mater und zum guten Schluss noch einige dankbare Worte für den unmittelbaren Vorgänger und die fleißigen Organisatoren der Feier. Zu lange sollte das alles freilich nicht dauern, denn ein solcher feierlicher Akt hat ohnehin die Tendenz, zu lange zu dauern und die Gäste von Buffet und Freibier abzuhalten. Ist es da eine gute Idee, heute Abend einen historischen Vortrag über Berliner Universitätsreformer aus zweihundert Jahren zu halten? Sie ahnen längst, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass dem Kirchenhistoriker das historiographische Gewand seiner Inaugurationsrede lediglich als Vorwand dient, dabei helfen soll, der Kürze der Zeit wegen seine eigenen Worte zur Situation der deutschen Universität und zu Lage und Zukunft der eigenen alma mater nicht ausführlich begründen zu müssen, sondern durch Verweis auf einige große Autoritäten der Berliner Universitätsgeschichte abzusichern. Meine heutige Geistesgeschichte von Berliner Reformideen kann gar nicht ernsthaft beanspruchen, auf dem Stand gegenwärtiger Universitätsgeschichtsforschung zu stehen, den Rüdiger vom Bruch jüngst noch einmal knapp bilanziert hat[2] . Aber bei einem solchen historiographisch verbrämten Zugriff auf die Gegenwart wird gleichzeitig deutlich, dass es im Vorfeld eines großen Jubiläums nicht mit der sorgfältigen Analyse einer maßstabsetzenden Universitätsgründung und von Höhen und Tiefen einer Universitätsgeschichte getan ist, sondern diverse Impulse aus zweihundert Jahren schöpferisch aufgegriffen werden müssen, um in der offenkundigen Malaise des deutschen Universitätssystems einen wirklichen Schritt voranzutun und ihn vielleicht doch wieder in Berlin-Mitte zu tun. Mit dem Stichwort „Reformuniversität“ kann ja nicht gemeint sein, einfach nur atemlos Reformidee auf Reformidee zu türmen und den voraufgehenden Generationen die mehr oder weniger offenkundigen Versäumnisse ihrer Reformversuche vorzuwerfen, ohne die Kontinuitäten im Guten wie im Schlechten aufmerksam wahrzunehmen und als Chance zu nutzen.

 

Ich habe mir für die folgenden reichlich dreißig Minuten vorgenommen, drei maßstabsetzende Texte aus der Vergangenheit unserer Universität darauf hin zu analysieren, was dort für Anstöße zur Gestaltung der kommenden fünf Jahre zu bekommen sind, Texte von Schleiermacher, Helmholtz und Virchow, die ich durch Seitenblicke auf Fichte, Du Bois-Reymond und Planck ergänzen werde. Eine solche Analyse ist ein kleiner Teil des an und für sich sehr lohnenden Projektes, neben den Denkschriften im Vorfeld der Errichtung der Universität 1810 einmal die Antritts- und sonstigen Festreden von über hundert Rektoren und Präsidenten dieser Universität[3] auf die Gegenwartstauglichkeit ihrer Reformvorschläge zu überprüfen – bekanntlich hat die gerade abgeschlossene erste Stufe des Exzellenzwettbewerbs überaus deutlich gezeigt, dass der erste Schritt einer jeden Modernisierung einer deutschen Universität nicht etwa die Konsultation einer Beratungsagentur ist, sondern die nüchterne Analyse ihres historisch gewachsenen Zustandes und die Erinnerung an wissenschaftliche Pointen ihrer eigenen Leitkonzepte. Nun wissen wir alle, dass es bei der Analyse von Leitkonzepten der Berliner Universität aus zweihundert Jahren nicht um irgendwelche beliebigen Leitkonzepte deutscher Universitätsreform geht – der einst hier an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin tätige und 1935 nach Göttingen zwangsversetzte Staatsrechtler Rudolf Smend (1882-1975) hat in seiner Festrede zum einhundertfünfzigjährigen Jubiläum der alma mater Berolinensis, die er rebus sic stantibus seinerzeit nur in Göttingen halten konnte, mit Blick auf die Leitkonzepte von 1810 von einem geistigen Boden gesprochen, „auf dem, seit dem und bis heute, alle deutschen Universitäten stehen“ [4] , übrigens auch einige uns heute gern als Vorbild empfohlene amerikanische Universitäten wie Harvard. In einem primär universitätsgeschichtlich orientierten Vortrag wäre nun zu fragen, ob die in solchen Worten kodifizierte Ausnahmeposition der Berliner Gründung von 1810 wirklich schon zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bestand oder nicht vielleicht doch die Folge der preußischen Dominanz seit der zweiten Jahrhunderthälfte war[5] . In meiner gegenwartsbezogenen Inaugurationsrede möchte ich heute Abend sehr bewusst fragen, worin dieser vielen deutschen und ausländischen Universitäten gemeinsame geistige Boden bestand – denn angesichts der gegenwärtig sehr technischen, präziser oft rein organisationstechnischen Definition von Universitätsreform ist die Frage, woher die Universität wissenschaftlich betrachtet eigentlich kommt und wo sie in Zukunft hin will, von besonderer Dringlichkeit. Wenn wir nicht in einem abstrakten „höher, schneller, weiter“ ersticken wollen, müssen wir sehr präzise fragen, worin wir eigentlich exzellent sein wollen, wer die besten Köpfe sind, die wir unter uns lehren und forschen sehen wollen und was eigentlich die viel beschworenen Formeln einer „Einheit von Lehre und Forschung“ oder von der „Wissenschaft als Lebensform“ konkret heute wirklich noch bedeuten können.

 

(1) Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken

 

Ich beginne meinen Durchgang durch die maßstabsetzenden Texte nicht bei Wilhelm von Humboldt, der in diesem Hause vielleicht zu oft als Mythos beschworen worden ist und für dessen Interpretation andere im Saal ungleich kundiger sind, sondern bei Friedrich Schleiermacher (1768-1834); dabei einem Diktum Franz Kades folgend, die Berliner Universität habe ihren Stempel nach Schleiermachers Idee und durch Humboldts Willen erhalten [6] . Vielleicht verwundert es ja auch nicht vollkommen, dass ein evangelischer Theologe im Amte des Präsidenten dieser Universität bei einem evangelischen Theologen einsetzt und sich dabei auch nicht durch Helmut Schelskys berühmte Polemik abschrecken lässt, Schleiermacher habe „von vornherein jeden Kompromiss mit dem Bestehenden geschlossen“[7] . Schauen wir zuerst auf Schleiermacher und dann – im Lichte unserer Lektüre – noch einmal auf Schelskys Polemik. Schleiermacher hatte 1807, von Halle her kommend, mit öffentlichen Vorlesungen in Berlin begonnen (übrigens schon im Palais des Prinzen Heinrich an der Straße Unter den Linden), Vorlesungen, die im Zeichen des von mannigfaltigen Schwierigkeiten belasteten Universitätsgründungsprojektes standen. Gleichzeitig amtierte er seit 1809 als Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche und seit 1810 als Mitglied der Einrichtungskommission der neuen Universität [8] . 1808 veröffentlichte Schleiermacher „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinne, nebst einem Anhang über neu zu errichtende“, auf Druck seines Verlegers Reimer nicht, wie zuerst geplant, unter Pseudonym. Das Exposé Schleiermachers verrät den theologischen Romantiker: Da auf dem „Gebiete des Wissens“ ohnehin alles ineinander greift, bildet für ihn Wissenschaft eine Einheit, in der es keine Vereinzelung geben kann, sondern höchstens die auf Mitteilung drängende Individualität eines Lehrers und Forschers [9] . Man könnte nun über viele Züge dieses wichtigen Textes reden; ich greife lediglich einen heraus, nämlich die hochinteressante Mischung von reformerischem Ehrgeiz und kluger Zurückhaltung bei Schleiermacher und entfalte ihn an drei Beispielen.

 

Zum einen: Der Theologe und Bildungsreformer stellt das in Preußen und Deutschland faktisch vorhandene Nebeneinander von Schule, Universität und Akademie der Wissenschaften nicht in Frage, sondern nimmt es sinnvollerweise zum Ausgangspunkt seiner Situationsanalyse. Allerdings bindet er sich geistig auch nicht einfach an die vorhandenen Institutionen, beispielsweise an die in Berlin vorhandene Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften, sondern fordert etwas, an dem heute wieder gearbeitet wird, eine deutsche Nationalakademie[10] . Im Konzert der drei Bildungsinstitutionen, von Akademie, Schule und Universität, beschreibt er die Aufgabe der Universität zunächst einmal als Erziehung, als Erzeugung von Geist, der stets auf die Einheit der Wissenschaft bezogen bleibt und sich nicht mit isoliertem Spezialwissen begnügt [11]. Da es ihm so auf die „Gabe der Mitteilung“ – heute würden wir vielleicht sagen: die didaktische Kompetenz – ankommt, stellt der Theologe auch sehr nüchterne Überlegungen darüber an, wie man einen Universitätslehrer wieder loswerden kann, „der sich als solcher überlebt“ hat[12] – sicher bis heute ein Merkposten für eine dringend notwendige Dienstrechtsreform. Eine umfassende Bildung der Studierenden ist nach Schleiermacher aber nur möglich, wenn die Universität „alles Wissen umfaßt“, mithin Universitas litterarum im Sinne einer klassischen Volluniversität bleibt und nicht zu einer Spezialschule für einzelne Disziplinen mutiert[13] . Vergleichbare Visionen von der Einheit der Wissenschaft prägen viele Rektoratsreden des neunzehnten Jahrhunderts und sind auch seither immer wieder entworfen worden, beispielsweise jüngst noch einmal von Jürgen Mittelstraß und anderen im sogenannten „Manifest Geisteswissenschaften“, das im vergangenen Jahr vorgelegt und diskutiert wurde. Auch wenn ich selbst die Idee der Einheit der Wissenschaft höchstens noch für eine regulative Idee im alltäglichen Geschäft des Wissenschaftlers halte und nicht für ein operationalisierbares Ziel einer Universitäts- oder Wissenschaftspolitik, bleibt es eine besondere Herausforderung der kommenden Jahre, wie wir den umfassenden Anspruch, Volluniversität zu bleiben, unter dem Diktat der finanziellen Verhältnisse aufrechterhalten können und zugleich – in Wettbewerb und strategischer Kooperation mit der Freien Universität und der Technischen Universität – auch deutliche Schwerpunkte ausbilden können. Was aber meint jener schreckliche Ausdruck „Volluniversität“ konkret? Etwas flapsig gefragt: Gehört Musikwissenschaft unbedingt dazu? Gerade wenn die Vorstellung von einer Einheit des Wissens in ihre Fragmente zerbröselt ist, stellt sich um so dringender die Notwendigkeit, den Kanon des in einer so bestimmten Universität Unverzichtbaren möglichst konsensfähig und präzise zu definieren. Außerdem muss die regulative Idee einer Einheit ihrer Wissenschaften auch in Zeiten weitgehend reglementierter Studienordnungen im Studienalltag wenigstens ansatzweise zur Geltung gebracht werden: Das Studium Generale ist nicht deswegen obsolet, weil es eine lateinische Bezeichnung trägt, und es sollte auch nicht erst über Amerika wieder als „Program for Liberal Studies“ eingeführt werden.

 

Zum zweiten: Schleiermachers Definition der Universitäten über ihre Bildungsfunktion impliziert, dass er auch ein Herz für die mittelmäßig begabten Studenten hat und nicht mit Verachtung auf sie herabschaut: „Kurz, es ist unvermeidlich“, schreibt er, „dass viele zur Universität kommen, die eigentlich untauglich sind für die Wissenschaft im höchsten Sinne“ [14]. Mir scheint Schleiermachers Idee, exzellente Lehrer und Studierende mindestens phasenweise gemeinsam mit weniger exzellenten studieren und forschen zu lassen, höchst modern: Wir würden doch unserer Sozialverantwortung im Bildungssystem wirklich nicht gerecht, wenn wir versuchen würden, uns als Elitehochschule für einen ganz kleinen Kreis hochbegabter Studierender zu definieren und die angekündigten Studentenberge nicht auch als Herausforderung und Chance begreifen würden: „Darum müssen die Universitäten“, so schreibt Schleiermacher, „so eingerichtet sein, dass sie zugleich höhere Schulen sind, um diejenigen weiter zu fördern, deren Talente, wenn sie auch selbst auf die höchste Würde der Wissenschaft Verzicht leisten, doch sehr gut für dieselbe gebraucht werden können“ [15]. Freilich setzt ein solches Konzept voraus, dass die Universität auch zielstrebig Hochbegabte auswählen darf und den Schlüssel, nach dem sich die einen zu den anderen verhalten, selbst festsetzen darf. Ein Rückfall in die Massenuniversität der siebziger Jahre kann angesichts des dramatischen Rückstandes bei den Betreuungsrelationen gegenüber anderen Ländern von keinem gewollt sein. Schleiermacher kommt das Verdienst zu, die alltägliche Quadratur des Kreises von Hochbegabtenförderung einerseits und Sozialverantwortung im Bildungswesen andererseits durch eine pädagogische Theorie abgesichert zu haben und damit deutlich über den Status einer rein pragmatischen Notlösung herausgehoben zu haben.

 

Zum dritten: Schleiermacher gibt unumwunden zu, dass die Gliederung der Universität in Fakultäten den Universitäten „ein gar groteskes Ansehn“ gäbe [16]. Wer wollte die tiefe Aktualität dieses Satzes in einer Universität bestreiten, in der man Fakultäten mit römischen Ziffern numerieren muss, weil es offenbar nicht immer ein wirklich distinktes Kriterium dafür gab, ein Institut der einen oder der anderen zuzuweisen. Schleiermacher bleibt aber bei dieser Diagnose nicht stehen und empfiehlt auch nicht – wie immer wieder einige Brachialreformer im deutschen Hochschulwesen – die radikale Veränderung dieser Struktur von oben. Er macht vielmehr – zum Teil in wörtlicher Anlehnung an Kants Schrift über den Streit der Fakultäten – darauf aufmerksam, dass einzelne Fakultäten ohnehin durch die berufsbezogene Funktion ihrer Ausbildung eine Sonderstellung haben (wie beispielsweise die juristische oder die theologische Fakultät) und sich trotzdem bemühen sollten, nicht zu Spezialschulen nach französischem Vorbild zu mutieren. Wieder liefert er also eine nachvollziehbare Begründung für etwas, das auf den ersten Blick kaum verständlich ist und antiquiert wirkt. Schleiermacher gibt dabei ehrlich zu, dass er eine wirklich überzeugende bessere Lösung der Untergliederung der Universität aufgrund ihrer heterogenen Bestandteile noch nicht kenne und daher beim bisherigen, von ihm durch eine Theorie des unterschiedlichen Charakters der Fakultäten sanktionierten Modell verbleiben wolle: „So übereile man sich doch ja nicht, damit man nicht etwas ganz Willkürliches an die Stelle dessen setze, was sich auf natürliche Art gebildet, und eben seiner Natürlichkeit wegen so lang erhalten hat; sondern suche doch erst die Bedeutung dieser bisherigen Formen recht zu verstehen“ [17]. Nach Jahrzehnten völlig übereilter und verhetzter Universitätsreform scheinen mir Schleiermachers Mahnungen nicht nur im Blick auf die Fakultätsstruktur dieser Universität beherzigenswert; natürlich brauchen wir am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts deutliche Strukturanpassungen im Aufbau einer deutschen Universität, aber es wäre viel sinnvoller, erst einmal in einer kleinen Einheit – beispielsweise einer Einheit für die Lebenswissenschaften, in die man unbeschadet seiner Fakultätszugehörigkeit kooptiert wird – auszuprobieren, welche Kuren einer ganzen Universität nützen und nicht schaden. Über „die Frage der Theilung der philosophischen Facultät“ sprach schon der Rektor der Jahre 1880/1881 und man muss ja nicht jedes seiner Argumente repetieren[18] .

 

Muss ich nun noch auf Schelsky eingehen? Muss ich noch eigens nachweisen, dass in Schleiermachers Text kein ängstlicher Kompromissler spricht, sondern ein erfahrener Pädagoge, der aus guten Grund die Extreme vermeidet? Muss ich wirklich noch einmal daran erinnern, wie die Orientierung an den Extremen im vergangenen Jahrhundert das ganze Stichwort „Universitätsreform“ in Misskredit gebracht hat?

 

(2) Hermann von Helmholtz, Über die akademische Freiheit

 

Als zweiten Text in der Reihe der drei erwähnten behandle ich die Rede, die Hermann von Helmholtz (1821-1894) am 15. Oktober 1877 beim Antritt seines Rektorates hielt und grüße damit zugleich meinen Vorgänger im Amt, der nun der nach Helmholtz benannten Gemeinschaft deutscher Forschungszentren vorsteht. Es hätte vermutlich etwas leicht Absurdes, wenn der Geisteswissenschaftler am Rednerpult seine Zuhörer darüber belehren wollte, dass Helmholtz erst sieben Jahre zuvor, als Zweitplazierter auf der Liste, aus Heidelberg nach Berlin gekommen war, aber durch seine vielfältigen Entdeckungen und Forschungen auf diversesten Gebieten längst zum „Reichskanzler der Physik“ avanciert war. Interessanterweise sprach Helmholtz in seiner Rektoratsrede aber nicht über diese Forschungsfelder, sondern über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten als dem inneren Grund „der bisherigen Blüthe unserer Universitäten“ und präsentierte sich folglich eher als Historiker denn als Naturwissenschaftler [19]. Der Redner stellte sich aber vor allem auch in die Tradition des ersten erwählten Rektors Fichte, der am 19. Oktober 1811 den Geist der Freiheit zur Herrin dieses Hauses ausrief. Helmholtz behandelte seine Variante dieses klassischen Berliner Inaugurationsthemas – die akademische Freiheit – von den Anfängen der Universität im Mittelalter an, mit durchaus sehr kritischen Seitenblicken auf den mittelalterlichen Habitus der zeitgenössischen englischen Universitäten und die Verfassung der französischen Universitäten – aber er verstand unter Freiheit der deutschen Universität zunächst einmal ausschließlich die „vollkommene Freizügigkeit der Studierenden“ (so übrigens wörtlich) „zwischen allen Universitäten deutscher Zunge von Dorpat bis Zürich“ und den Fortfall der universitären Aufsicht über das außeruniversitäre Leben der Studierenden[20] , die Freiheit der Studierenden, „bestimmte Curse und bestimmte Lehrer“ selbst wählen zu dürfen und Bibliotheken, „Sammlungen von Gypsen“ wie Laboratorien in unmittelbarer Nähe der Universitäten zu haben [21]. Welche starken Eingriffe von staatlicher Seite die Berliner Universität von Anfang an ertragen musste – wie erzürnt war beispielsweise der König, als 1810 die Inschrift über dem Hauptportal ohne seine Genehmigung angebracht wurde; wie energisch wurde staatlicherseits seit 1840 die „Drachensaat des Hegelianismus“ über die Berufungspolitik bekämpft[22] –, verschwieg Helmholtz in Fichtescher Tradition wohlweislich und beschönigte insbesondere die Kooperation zwischen staatlichem und universitärem Handeln bei Berufungen im neunzehnten Jahrhundert[23]. Und trotzdem liest man in gegenwärtigen Zeiten seine Bemerkungen durchaus mit einer gewissen Melancholie: Droht nicht die forcierte Umstellung aller Studiengänge auf Bachelor und Master eben jene klassische, wenigstens der Theorie nach vollkommene Freizügigkeit der Studierenden über Gebühr zu ruinieren? Wer kann dann wirklich noch frei zwischen allen Universitäten deutscher Zunge wechseln, von einem Ausflug ins dem Prozess namensgebende Bologna einmal ganz abgesehen? Oder wer darf in diesem neuen Modell noch gänzlich frei bestimmte Kurse und bestimmte Lehrer wählen? Und wo ist die berühmte Gipsabguss-Sammlung dieser Universität abgeblieben, die unter Georg Loeschke so prominent im Westflügel des neuen Universitätsgebäudes untergebracht war? Mir scheint, so betrachtet, das auf den ersten Blick ziemlich kleinteilige, vielleicht sogar etwas kleinkarierte Verständnis akademischer Freiheit, das Hermann von Helmholtz in seiner Rektoratsrede von 1877 entfaltet, sehr hilfreich für gegenwärtige Universitätsleitung – es formuliert nämlich, aus heutiger Perspektive gelesen, sehr konkrete Aufgaben für eine Universitätsreform, beispielsweise in unsere neuen Studienordnungen doch noch mehr Raum für einen Auslandsaufenthalt einzubauen, der freien Wahl wieder etwas mehr Geltung zu verschaffen und die Arbeitsbedingungen aller Studierenden nachhaltig zu bessern, nicht nur die der Archäologen, aber eben auch deren Situation durch mindestens partielle Rekonstruktion der Abgusssammlung unserer Universität im Rahmen des August-Boeckh-Antikezentrums. Im Blick auf die Berufungspolitik findet sich bei Helmholtz (ungeachtet aller Beschönigung faktischer Probleme) bereits ein Diktum, das mein verehrter Vorgänger im Amt dieser Universität wieder und wieder eingeschärft hat: Schon Helmholtz hält es 1877 für die Schicksalsfrage einer Universität, ob es ihr gelingt, die besten Köpfe als Hochschullehrer zu gewinnen und „möglichst intelligente Studierende“ heranzuziehen[24]. Zu den unbestreitbaren Erfolgen der Präsidentschaft Jürgen Mlyneks gehört es, diese Grundsätze einer ganzen Universität eingeschärft zu haben, an seinem Nachfolger wird es liegen, ob der Grundsatz in der bald anstehenden Pensionierungswelle der Neuberufenen aus den neunziger Jahren zur Geltung gebracht werden kann und in intelligente, möglichst gerechte Auswahlverfahren für Studierende umgemünzt werden kann. Hier ist noch viel zu tun. Ich stimme mit dem regierenden Bürgermeister und dem Senator darin überein, dass vor einem endgültigen Übergang des Berufungsrechtes auf die Universitäten spürbare Verbesserungen in dem nachzuweisen sind, was man heute „Qualitätsmanagment“ nennt und versichere, dass beispielsweise die Dekane dieser Universität bereits erste Schritte auf diesem Wege unternommen haben.

 

Helmholtz bricht die im hohen Ton vorgetragene Rede von der akademischen Freiheit, die Fichte emphatisch als „der eigentlich belebende Odem der Universität“ bezeichnet[25] , herunter in sehr kleinteilige Aufgaben und Schritte – das mag der Charme eines Naturwissenschaftlers sein, der den großen Worten der Geisteswissenschaftler gern misstraut. Vielleicht können auch wir heute auf eben diese Weise die zur bloßen Formel erstarrte, in braunen Universitäten zerstörte und in der Massenuniversität der siebziger Jahre abhanden gekommene akademische Freiheit wieder als einen zentralen Wert dieser Universität und nicht allein dieser Universität zurückerobern. Nur dann hätten auch die vielen kleinen reformerischen Maßnahmen, die wir im Bereich der Studienordnungen oder der Verwaltungsabläufe einleiten und längst eingeleitet haben, einen Wert, an dem man sich orientieren könnte und verblieben nicht im Bereich orientierungsloser Organisationsreform. Wir wären auf diese Weise, wie wir bei der Analyse Schleiermachers sahen, auch zu einer ebenso nüchternen wie nachhaltigen Interpretation akademischer Grundwerte aus der Gründergeneration dieser Universität zurückgekehrt. Aber auch von den Vertretern des emphatischen Freiheitspathos in der Geschichte unserer Universität lässt sich lernen: Fichte führt in seiner Antrittsrede aus, dass die ärgste Gefahr für die akademische Freiheit durchaus nicht vom Staat drohen muss, sondern aus der Universität selbst kommen kann [26] und im Vorfeld eines zweihundertjährigen Jubiläums steht es uns gut an, den Verfall der akademischen Freiheit im zwanzigsten Jahrhundert nicht ausschließlich auf die widrigen Mächte außerhalb der Universität abzuschieben und dieses Gedächtnis innerhalb der Universität wach zu halten.

 

 (3) Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Universität

 

Als dritten Text möchte ich nun noch kurz die Rede behandeln, die Rudolf Virchow am 3. August 1893 als seinerzeitiger Rektor zum Gedächtnis des Geburtstages ihres Namenspatrons, des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III., gehalten hat – für den überzeugten Republikaner des Jahres 1848, der seit 1856 das anatomisch-pathologische Institut leitete, gewiss kein ganz leichtes Unterfangen. Virchow sprach, wie es das Genre erforderte, zunächst über den bis heute unterschätzten Monarchen, um dann – wie es gleichfalls dem Genre entsprach –, grundsätzlicher zu werden. Er unterschied eine „philosophische“ und eine „naturwissenschaftliche Zeit“ in der Geschichte der Berliner Universität und datierte den Beginn der letzteren auf die Rückkehr Alexander von Humboldts aus Paris nach Berlin im Jahre 1827[27] . Auch wenn mit dieser Periodisierung unserer Universitätsgeschichte durch Virchow die Bedeutung der höchst erfolgreichen Berliner Vorlesungen und Vorträge Alexander von Humboldts in den Jahren 1827/1828 wahrscheinlich etwas überschätzt ist, repräsentiert Virchow mit seinem emphatischen Bezug auf die Rede vom „naturwissenschaftlichen Zeitalter“, das nunmehr angebrochen sei, einen ganz bestimmten und nicht nur seinerzeit weit verbreiteten Typus des selbstbewussten Naturwissenschaftlers – und dies unbeschadet der Tatsache, dass Virchow schon seiner eigenen ethnologischen oder ur- und frühgeschichtlichen Studien wegen durchaus auch als Geisteswissenschaftler bezeichnet werden kann. Das Thema, das sich Virchow wählte, war freilich älter: Bereits Hermann von Helmholtz hatte in seiner Heidelberger Rektoratsrede von 1862 „Natur-“ und „Geisteswissenschaften“ unterschieden, aber noch ihre „engste Verwandtschaft“ festzuhalten versucht[28] , während Emil Du Bois-Reymond (1818-1896) in seiner Berliner Rektoratsrede aus dem Jahr 1882 schon unter dem bezeichnenden Titel „Goethe und kein Ende“ gegen die naturwissenschaftlichen Forschungen Goethes polemisierte, der damals von Geisteswissenschaftlern noch gern als Garant wie als Exponent der Einheit von Natur- und Geisteswissenschaften herangezogen wurde: Goethe habe in Wahrheit naturwissenschaftliche Verwirrung befördert, weil in seinen einschlägigen Schriften „ästhetische Anschauung und übermütige Spekulation sich gegenseitig bekränzten und die verständige Empirie als Aschenbrödel in die Ecke drückten“ [29]. Bei Virchow zeigt sich das erwachte Selbstbewusstsein der Naturwissenschaft, das nicht einmal davor zurückschreckt, Goethe zu demontieren, wenn der Berliner Pathologe in seiner Rektoratsrede die Naturwissenschaften „in ihrem treuem Festhalten an dem thatsächlichen Wissen“ als einziges Heilmittel gegen tierischen Magnetismus, Spiritismus und Antisemitismus preist und die idealistische Philosophie der Berliner Professoren Hegel und Schelling samt ihren Adepten als eine „unglückselige Anschauung“ bezeichnet[30] . Wer wollte aber auch bestreiten, dass der ungeheuere wissenschaftliche Fortschritt in den Naturwissenschaften seit dem neunzehnten Jahrhundert, der beispielsweise schon wegen des existentiellen Bezugs der Entdeckungen zu unserer eigenen Gesundheit fasziniert, tatsächlich nach einem langen Zeitalter der Geisteswissenschaften ein „naturwissenschaftliches Zeitalter“ inauguriert hat – der ebenso nachdrückliche wie nachträgliche Protest, den der Jubiläumsredner des Jahres 1910, der als seinerzeitiger Rektor amtierende Germanist Erich Schmidt (1853-1913) erhob, wirkt heute eher wie ein verlorenes geisteswissenschaftliches Rückzugsgefecht[31] . Demgegenüber liest man Max Plancks Rektoratsrede aus dem Jahr 1913 über „Neue Bahnen der physikalischen Erkenntnis“ mit deutlich größerer Zustimmung, wenn er davon spricht, dass „die experimentelle physikalische Forschung“ niemals einen „ähnlichen stürmischen Aufschwung erlebt“ habe wie seit etwa einem Menschenalter und zum Beweis als allen bekannte Zeichen dieses Aufschwungs die „Wellen der drahtlosen Telegraphie, die Elektronen, die Röntgenstrahlen, die Erscheinungen der Radioaktivität“ nennt [32]. Warum befriedigt heute eine solche Rede vom Triumph des „naturwissenschaftlichen Zeitalters“ trotzdem nicht mehr? Ich denke zuallererst deswegen, weil uns heute solche Dichotomien zwischen einer Wissenschaft, die treu am tatsächlichen Wissen festhält, und einer anderen, die lediglich interpretatorisches Wissen generiert, seltsam überholt scheinen; der Protest gegen die Rede von den zwei Kulturen einer Geistes- und Naturwissenschaft, die der Rede von zwei Zeitaltern zugrunde liegt, ist en vogue. Und wenn es keine unterschiedlichen Kulturen von Geistes- und Naturwissenschaften geben sollte, dann vermutlich auch keine unterschiedlichen, aufeinander folgenden Zeitalter.

 

Viel gewonnen ist mit solchem Protest gegen die begrifflichen und wissenschaftstheoretischen Dichotomien freilich noch nicht, denn wie jenseits der viel beschworenen Forderungen von Inter- und Transdisziplinarität wirklich in den Geisteswissenschaften der Stand naturwissenschaftlicher Debatten präsent gemacht werden kann – beispielsweise indem Historiker wissen, was Physiker über Zeit sagen –, ist sehr schwer konkret zu sagen. Mit dem allgemeinen Hinweis eines Philosophen, dass schon die Versuchsanordnung eines Naturwissenschaftlers in aller Regel wenig mit „tatsächlichem Wissen“ und viel mit konstruktivem Zugriff auf Wirklichkeit zu tun hat, ist natürlich auch kaum jemand geholfen. Max Planck zitiert schon 1913 zustimmend Hermann Helmholtz mit der Einsicht, „dass unsere Wahrnehmungen uns niemals ein Abbild, sondern höchstens ein Zeichen der Außenwelt zu liefern vermögen“[33] .

 

Wer sich heute wirklich um das interdisziplinäre Gespräch bemüht, weiß davon ein garstigeres Lied zu singen als die, die die einschlägigen Formeln wie eine Monstranz vor sich her tragen. Und wie es gelingen kann, neben solchen wechselseitigen Lernprozessen institutionell und methodisch eine Integrationswissenschaft zwischen Natur- und Geisteswissenschaft zu stellen, in der beispielsweise das Leben gemeinsam erforscht wird, auch dies für die Berliner Stadtmitte und Adlershof zu konkretisieren, wird noch allerlei Anstrengungen brauchen. Aber da die hochspezialisierte Forschung – nicht zuletzt auf Betreiben meines Lehrstuhlvorgängers Adolf von Harnack – in die außeruniversitären Institute beispielsweise der Max-Planck-Gesellschaft ausgewandert ist und sich nur in begrenztem Umfang wird zurückholen lassen, liegt in dem energischen Aufbau solcher integrationswissenschaftlicher Einrichtungen eine spezifische Aufgabe der Universität, die in Zukunft sicher auch niemand anders wahrnehmen wird. Deswegen müssen wir, die Universitäten, sie wahrnehmen und dazu auch neue Strukturen entwickeln – Institutionen schaffen und unsere klugen Forscher entschlossen von Aufgaben in Lehre und Verwaltung entlasten.

 

Mir ist Virchows Rede aber noch aus einem weiteren Grund wichtig, der vielleicht auch noch einmal deutlicher zum Ausdruck bringt, dass der neue Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin ein evangelischer Theologe ist und in dieser Qualifikation jedenfalls keinen Nachteil für die Ausübung des ihm heute feierlich übertragenen Amtes sieht. Virchows Rede ist nämlich ein vorzügliches Beispiel für die quasi messianischen Erwartungen, die Wissenschaftler und auch die allgemeine Öffentlichkeit seit dem späten neunzehnten Jahrhundert an die Naturwissenschaften richteten. Jürgen Renn hat vor einiger Zeit einmal schön beschrieben, dass man vor allem die Naturwissenschaft seit dieser Epoche, aber auch die Geisteswissenschaft mit religionswissenschaftlichen Kategorien beschreiben konnte und so ihr Wesen sehr präzise in den Blick nimmt: Wissenschaft war zu einer Art von Kirche geworden (man sprach freilich gern, wie Einstein anlässlich von Plancks sechzigstem Geburtstag 1918 in klassischer humanistischer Tradition vom „Tempel der Wissenschaft“[34] ), in der die Wissenschaftler als religiöse Experten Dienst taten. In der erwähnten Rede Virchows von 1893 taucht diese Dimension eher zurückhaltend auf, in seiner Ansprache auf der Naturforscherversammlung von 1865 war Virchow viel deutlicher geworden: „Es ist die Wissenschaft für uns zur Religion geworden“. Liest man vor dem Hintergrund dieses Satzes noch einmal, was Virchow über das neue naturwissenschaftliche Zeitalter schreibt, so wird der hegemoniale Anspruch durch seine religiöse Verklärung noch einmal deutlicher[35]. Eine Theologische Fakultät in einer Universität und ein Theologe als deren Präsident wird vor jeder quasireligiösen Verklärung von Wissenschaft nur warnen können und – zum Teil aus leidvollen eigenen Erfahrungen – natürlich auch vor hegemonialen Ansprüchen, die die Berliner Universität mindestens im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert sehr deutlich geprägt haben. Heute wissen wir aber hoffentlich, dass gute Wissenschaft – um einen ganz und gar altmodischen Ausdruck zu verwenden –ganz im Gegenteil ein gutes Stück Demut voraussetzt, die Gewissheit, irren zu können und die feste Überzeugung, in einer Gesellschaft zwar kompetente Beratung anbieten zu können, aber deswegen trotzdem nicht den geheimen Schlüssel für die Lösung aller Probleme der globalisierten Welt zu kennen. Natürlich soll die Humboldt-Universität nicht in Sack und Asche gehen, auch und gerade nicht angesichts der Nachrichten aus den ersten Tagen meiner Präsidentschaft. Aber Bescheidenheit steht ihr gut an, denn sie ist ein Zeichen guter Wissenschaft. Und Bescheidenheit schließt ja auch gar nicht aus, dass man dezent, aber nachdrücklich und ein wenig stolz auf Forschungsergebnisse und Lehrerfolge hinweist. Mir scheint, zusammenfassend gesagt, dass eine solche wissenschaftliche Demut, akademische Nüchternheit und zugleich ein Interesse am Ausgleich verschiedener Interessen und Werte den Charme der 1810 eröffneten Berliner Universität ausmachte, einen Charme, den sie sich nicht immer bewahren konnte, der aber zugleich auch den geistigen Boden bildete, auf dem bis heute beeindruckende Leistungen wuchsen. Nach diesem geistigen Boden wollten wir fragen und haben nach ihm gefragt; ich komme daher, meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Schluss.

 

Carl Heinrich Becker (1876-1933), ein kluger Islamwissenschaftler und als Preußischer Kultusstaatssekretär und -minister ein Freund der Friedrich-Wilhelms-Universität[36] , hat die deutsche Universität vor knapp achtzig Jahren als „im Kern gesund“ bezeichnet; Dieter Simon, ein kluger Byzantinist und als ehemaliger Vorsitzender des Wissenschaftsrates maßgeblich verantwortlich für die Neugestaltung des ostdeutschen Universitätssystems nach der Wiedervereinigung, nannte sie Anfang der neunziger Jahre „im Kern verrottet“. Einmal abgesehen von der Frage, ob man eine solche tief gespaltene Diagnose nicht zu allen Zeiten über die deutsche Universität formulieren konnte – bekanntlich gab es bei der Eröffnung der Berliner Universität 1810 weder genügend Tische noch Bänke und im Prinzenpalais Unter den Linden saß der Schwamm – , ist die entscheidende Frage doch nur, welche Konsequenz man aus der Lage der deutschen Universitäten und der Lage unserer eigenen alma mater Berolinensis zieht: Ob man sie der Mühe und des Engagements für wert hält, oder ob man sich aus der im Kern verrotteten deutschen Universität an die kleinen, aber feinen Institutionen der Drittmittelforschung und der privaten Hochschulen zurückzieht. Wie ich selbst mich entschieden habe, ist heute noch einmal öffentlich deutlich geworden; warum ich mich so entschieden habe, konnte ich Ihnen hoffentlich in den vergangenen Minuten einigermaßen begreiflich machen. Zum guten Schluss möchte ich Sie, sehr verehrte Damen und Herren, auffordern, mitzutun, denn ohne gemeinsames Engagement von Politik, Wissenschaft und Verwaltung werden wir die Malaisen des deutschen Universitätssystems sicher nicht kurieren, schon gar nicht in Berlin-Mitte und vielleicht sogar ein Stück weit von Berlin-Mitte aus. Es wäre, wie ich jüngst gesagt habe, doch schon vollkommen ausreichend, wenn wir auf dem Weg zum Jubiläum im Jahre 2010 einige pfiffige Ideen zur Beförderung der Modernität der deutschen Universität anzubieten hätten. Einige von diesen Ideen habe ich heute angedeutet, andere werden wir schon miteinander entwickeln müssen. Die Arbeit hat ja erst begonnen. Vielen Dank für Ihre Geduld.


 

Fußnoten zur Inaugurationsrede:



[1] Die Fußnoten dienen in der hier vorliegenden Fassung lediglich der unmittelbaren Dokumentation.

[2] R. vom Bruch, Methoden und Schwerpunkte der neueren Universitätsgeschichtsforschung, in: W. Buchholz (Hg.), Die Universität Greifswald und die deutsche Hochschullandschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Kolloquium des Lehrstuhls für Pommersche Geschichte der Universität Greifswald in Verbindung mit der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (Pallas Athene 10), Stuttgart 2004, 9-

[3] Eine Untersuchung dieses Materials ist auch ein universitätsgeschichtliches Desiderat; vgl. vom Bruch, Methoden und Schwerpunkte, 22 und B.-A. Rusinek, Magnifizenz in Sorgen. Das „Hoch“ der Hochschule, die „universitas“ der Universität, der „Geist“ der Geisteswissenschaften. Rektoratsreden des 19. Jahrhunderts als ferner Spiegel, seit 2003 im Forum H-Soz-u-Kult unter der Internet-Adresse (letzter Zugriff 5.2.2006), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?pn=forum&type=diskussionen&id=296.

[4] R. Smend, Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Rede zum 150jährigen Gedächtnis ihrer Gründung (Göttinger Universitätsreden 31), Göttingen 1961, 2.

[5] Vom Bruch, Methoden und Schwerpunkte, 21.

[6] F. Kade, Schleiermachers Anteil an der Entwicklung des preußischen Bildungswesens 1808-1818, Leipzig 1925, 112.

[7] H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen (rowolts deutsche enzyklopädie 171/172), Reinbeck bei Hamburg 1963, 60; R. vom Bruch, Die Gründung der Berliner Universität, in: R.C. Schwinges u.a. (Hgg.), Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 3), Basel 2001, (53-73) 62; W. Rüegg, Der Mythos der Humboldtschen Universität, in: M. Krieg u. M. Rose (Hgg.), Universitas in theologia – theologia in universitate, FS für H.-H. Schmid zum 60. Geburtstag, Zürich 1997, 155-174.

[8] K. Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002, 187-197. 215-223; ders., Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturwissenschaftliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts (AKG 9), Weimar 1986, 255-263 .

[9] Ich zitiere nach: Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, in Zusammenarbeit mit W. Müller-Lauter u. M. Theunissen hg. v. W. Weischedel (Gedenkschrift der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjubiläums der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin), Berlin 1960, 106-192; auch in: Gelegentliche Gedanken über Universitäten von J.J. Engel, J.B. Erhard, F.A. Wolf, J.G. Fichte, F.D.E. Schleiermacher, K.F. Savigny, W.v. Humboldt, G.F.W. Hegel, hg. v. E. Müller (Reclam-Bibliothek Bd. 1353), Leipzig 1990, 159-259.

[10] „Wie viele Akademien nach dieser Idee Deutschland wohl haben sollte? Eine höchstens oder zwei, eine nördliche und eine südliche“ (p. 120 Weischedel).

[11] 122 Weischedel.

[12] 155 Weischedel.

[13] 131 Weischedel.

[14] 132 Weischedel.

[15] 133 Weischedel.

[16] 141 Weischedel.

[17] 142 Weischedel.

[18] A.W. Hofmann, Die Frage der Theilung der philosophischen Facultät. Rede zum Antritt des Rectorats in der Aula der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. October 1880 gehalten, Berlin 21881.

[19] H. Helmholtz, Über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten. Rede beim Antritt des Rectorats der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. October 1877 gehalten, Berlin 1878, 7.

[20] Helmholtz, Über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten, 17f.

[21] Helmholtz, Über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten, 21.

[22] Dazu M. Lenz, Freiheit und Macht im Lichte der Entwickelung unserer Universität. Rede zum Antritt des Rektorates der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, gehalten in der Aula am 15. Oktober 1911, Berlin 1911, 8f.

[23] Helmholtz, Über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten, 25.

[24] Helmholtz, Über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten, 25.

[25] J.G. Fichte, Über die einzig mögliche Störung der akademischen Freiheit. Rede beim Antritt des Rektorates gehalten am 19.10.1811, hier zitiert nach Weischedel, aaO. (231-249) 231.

[26] 236 Weischedel.

[27] R. Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und der Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter. Rede am 3. August 1892 in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gehalten von dem zeitigen Rector R.V., Berlin 1893, 18 („philosophische Zeit“) sowie 21 („der definitive Uebergang in die naturwissenschaftliche Zeit“).

[28] H. von Helmholtz, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaft, in: ders., Vorträge und Reden Bd. 1, Braunschweig 41896, 159-185.

[29] E. Du Bois-Reymond, Goethe und kein Ende. In der Aula der Berliner Universität am 15. Oktobert 1882 gehaltene Rektoratsrede, in: E. Du Bois-Reymond, Reden von Emil Du Bois-Reymond in zwei Bänden, Bd. 2, Leipzig 21912, 157-183.

[30] Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und der Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter, 26-29.

[31] E. Schmidt, Reden zur Litteratur- und Universitätsgeschichte, Berlin 1911, 46.

[32] Rektorwechsel an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. Oktober 1913. I. Bericht des abtretenden Rektors D. Dr. Wolf Wilhelm Grafen Baudissin über das Amtsjahr 1912/1913. II. Rede des antretenden Rektors Dr. Max Planck: Neue Bahnen der physikalischen Erkenntnis, Berlin 1913, (25-45) 27.

[33] Planck, Neue Bahnen der physikalischen Erkenntnis, 40.

[34] J. Renn, Wissenschaft als Lebensorientierung: Eine Erfolgsgeschichte?, in: E. Herms (Hgg.); Leben. Verständnis. Wissenschaft. Technik. Kongressband des XI. Europäischen Kongresses für Theologie, 15.-19. September 2002 in Zürich (VWGTh 24), Gütersloh 2005, (15-31) 22f. (mit Zitaten aus der Rede)

[35] R. Virchow, Über die nationale Entwickelung und Bedeutung der Naturwissenschaft. Rede, gehalten in der zweiten allgemeinen Sitzung der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Hannover am 20. September 1865, Berlin 1865, 18.

[36] W.W. Wittwer, Carl Heinrich Becker, in: 251-W. Treue/K. Gründer (Hgg.), Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 60 = Berlinische Lebensbilder 3), Berlin 1987, 250-267.

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