Humboldt-Universität zu Berlin

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Eröffnung des August-Boeckh-Antikezentrums und des Sonderforschungsbereichs „Transformationen der Antike“

„Leibniz in seinem Verhältnis zur positiven Theologie“, „Das Verhältnis des theoretischen Lebens zum praktischen“, „Über Friedrich des Großen klassische Studien“, „Erklärung einer attischen Urkunde über das Vermögen des Apollinischen Heiligtums auf Delos“, „Über die Kenntnisse der Alten von der verschiedenen Schwere des Wassers“: Ich habe Ihnen gerade, Herr Staatssekretär, Frau Vizepräsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Studierende, meine Damen und Herren, nicht beliebige Titel aus einem Forschungsbericht der Humboldt-Universität unserer Tage verlesen, nicht zufällige Einblicke in die Produktion diverser Institute unserer alma mater gegeben. Nein, ich habe Ihnen fünf beliebige Titel aus den 1858 bis 1872 veröffentlichten und jüngst nachgedruckten kleinen Schriften August Boeckhs genannt, die die für heutigen Geschmack ungeheuere Spannbreite dieses Professors für Eloquenz und Poesie illustrieren, eines Gründervaters dieser Universität, der als klassischer Philologe nur sehr unvollkommen beschrieben wäre.
In den ersten Dezennien der Friedrich-Wilhelms-Universität genügte noch eine einzige Person, um sorgfältige Analysen über das Verhältnis von philosophischem System und persönlicher Religiosität bei Leibniz vorzutragen oder die Bedeutung von Lukrez, Cicero und Seneca für Friedrich den Großen herauszustellen, aber gleichzeitig auch aus dem Corpus Hippocraticum und Plinius Nachrichten über die unterschiedliche Schwere des Wassers zu sammeln oder aus einer Inschrift Details der antiken Straßenpflasterung der heute in Jordanien gelegenen Stadt Gerasa/Jerasch zu rekonstruieren1. Die von Boeckh betriebene, weit ausgreifende Form einer Altertumswissenschaft vermied unnatürliche Grenzziehungen – beispielsweise auch gegenüber der Orientalistik, die hier noch „morgenländische Philologie“ genannt ist und war um Allgemeinverständlichkeit bemüht; immer wieder einmal ist in den „Gesammelten kleinen Schriften“ eine schwierige Inschrift auch ins Deutsche übersetzt. Und trotzdem blieb die so weit ausgreifende und so umfassend betriebene Wissenschaft von der Antike kein bloßes Sammelsurium von Studien aus diversen, unverbundenen Gebieten. Boeckh hat immer wieder, beispielsweise in seiner großen Festrede über den „Sinn und die Gründung der Berliner Universität“ von 1856 den reichen Kranz seiner wissenschaftlichen Interessen auf eine mindestens intentional anvisierte und vorausgesetzte Einheit des Wissens bezogen. Mit Schleiermacher formulierte er, daß das „Bewußtsein von der notwendigen Einheit alles Wissens, von den Gesetzen und Bedingungen seines Entstehens, von der Form und dem Gepräge“ überhaupt erst bewirkt, daß „jede Wahrnehmung, jeder Gedanke ein eigentliches Wissen ist“2. Wir sind dem Urenkel von August Boeckh, Herrn Pfarrer Boeckh, sehr dankbar, daß er uns diese wissenschaftliche Physiognomie nachher präsent machen wird.
Ich sage wahrlich nichts Neues, wenn ich nur ganz knapp daran erinnere, daß und wie diese umfassende, für die Berliner Universität charakteristische Form einer Wissenschaft von der Antike und ihrer Transformation im zwanzigsten Jahrhundert zerbrochen ist. Am Ideal einer solchen umfassenden Beschäftigung mit der Antike wollen wir aber an der Humboldt-Universität festhalten, müssen wir festhalten, weil darin ein zentrales Element der Identität dieser Berliner Universität des Mittelpunktes besteht, ein zentrales Element ihrer Funktion für die Selbstaufklärung einer nach Identität suchenden Gesellschaft. Heute reicht für diese Aufgabe freilich nicht mehr eine Professur für Eloquenz und Poesie. Es braucht es dazu ein Zentrum, ein interdisziplinäres Zentrum mit fast fünfzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus diversen Fakultäten. Tó kéntron heißt zunächst einmal Stachel: Ein interdisziplinäres Zentrum soll seine Mitglieder dazu anstacheln, gemeinsam auf dem Gebiet der Antikeforschung tätig zu werden, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Sache zu gewinnen. Es soll, wie das griechische Wort ebenfalls besagen will, als eine Klammer verschiedenster Personen und Disziplinen wirken. Und das unter den bekannten Berliner Bedingungen. Wie heißt es so schön in den Parallelbiographien Plutarchs über Kleopatra? „Denn an und für sich war ihre Schönheit, wie man sagt, gar nicht so unvergleichlich und von der Art, daß sie beim ersten Anblick bezirzte, aber im Umgang hatte sie einen unwiderstehlichen Reiz, und ihre Gestalt, verbunden mit der gewinnenden Art ihrer Unterhaltung und der sie in allem umspielenden Anmut, hinterließ einen Stachel (ein kéntron)“. Was Plutarch von Kleopatra schreibt, kann man hoffentlich auch bald für das aus dem Universitätshaushalt nur sehr mäßig alimentierte August-Boeckh-Antikezentrum sagen: Seine institutionelle Schönheit ist gar nicht so unvergleichlich, aber die Art unserer Unterhaltung soll einen Stachel in dieser Universität und darüber hinaus hinterlassen.
Hartmut Böhme hat in seinen Worten sehr deutlich die Abstände markiert, die uns nicht nur von der Antike, sondern gerade auch von ihren Berliner Repristinationen – oder eben: Transformationen – trennen. Ein einziges Beispiel: Während Boeckh die antike Unterscheidung eines bíos theoretikós vom bíos praktikós so erneuert, „daß die Wissenschaft sich nicht in das Triebwerk des sogenannten Lebens hineinbegeben sollte“3 , erneuern, repristinieren und transformieren wir mit einem Plädoyer für eine neue Berliner Lebenswissenschaft unter Einschluß der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften eher andere Richtungen antiker Wissenschaftstheorie. Die konstruktive Seite jeder Beschäftigung mit der klassischen Antike zu leugnen, wäre naiv. Schließlich erforschen wir sie ja auch in einem Sonderforschungsbereich und in einem interdisziplinären Zentrum. Aber es wäre zugleich auch äußerst schade, wenn wir das energische Plädoyer von Boeckh für die Unabhängigkeit der Wissenschaft vom Staat, in der er den Angelpunkt aller „Versuche und Vorschläge zur Verbesserung des Universitätswesens“ sieht4 , lediglich in einer Art von analytischer Halbdistanz zu uns selbst halten und uns nicht energisch zu eigen machen würden. Und Gleiches gilt für die imponierende interdisziplinäre Neugier und wissenschaftliche Breite Boeckhs, die einer der Gründe war, die Arbeit im Antikezentrum unter seinem Namen zu beginnen.
In diesem Sinne eröffnen wir heute feierlich, was längst begonnen hat und wünschen einander gutes Gelingen.

1 GS VI, 154f.
2 KS II, 143. (aus Schleiermachers Gedanken zur Universitätsgründung)
3 KS II, 327.
4 KS II, 57.

Prof. Dr. Christoph Markschies
Berlin, 16. November 2005

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