Humboldt-Universität zu Berlin

Berliner Bernstein Centrum für Computational Neuroscience

Grußwort zur Eröffnung am 7. Mai 2007

Für einen Theologen, der auch Philosophie studiert hat, liebe Herren Kollegen Ganten und Kutzler, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, liebe Studierende – für einen Theologen, der auch Philosophie studiert hat, gehört die Frage, warum wir auf welche Weise handeln, zu den großen Schlüsselfragen seines Faches und er sieht vor seinem geistigen Auge eine ganze Bibliothek von Antworten aus Vergangenheit und Gegenwart. Mindestens aber so erregend wie jene Frage nach dem Handeln ist eine Entwicklung der letzten Jahre – ich meine die Revolution der traditionellen Diskussion über diese Frage durch die Neurowissenschaften. Ich entsinne mich noch sehr gut, wie ich in den frühen neunziger Jahren erstmals all’ das, was Ihnen als Neurowissenschaftler natürlich selbstverständlich ist, staunend verschlang und beispielsweise begriff, daß Wahrnehmung „nicht als passiver Abbildungsprozeß zu verstehen ist, sondern als aktiver, interpretativer Vorgang, der aus lückenhaften Sinnessignalen eine kohärente Wahrnehmungswelt konstruiert“. Mindestens ebenso wichtig wie diese Einsicht empfand ich die Ihnen damals sicher auch schon völlig selbstverständliche Erkenntnis, daß es ganz gegen unsere Selbstwahrnehmung im Gehirn kein übergeordnetes Kompetenzzentrum gibt, „in dem alle Verarbeitungsprozesse zusammengeführt und einer einheitlichen Interpretation unterzogen werden“ (Wolf Singer). Nun kann freilich die Konsequenz aus diesen revolutionären Veränderungen klassischer Debatten durch neue Erkenntnisse nicht sein, daß wir jenseits der klassischen Disziplinengrenzen neue Hybridwissenschaften etablieren, in denen alle Katzen grau sind – indem der Neurologe beispielsweise schnell zum Neurophilosophen mutiert und seine laienhaften Einsichten über Descartes, Locke und Leibniz oder das Freiheitsproblem in der Geschichte der Philosophie vorträgt, oder ein Jurist mal eben kurz das von Wolf Singer beschriebene „Bindungsproblem“ als Modell für die Architektur sozialer Rechts- und Regelsysteme verwendet, um von der sogenannten „Neurotheologie“, die von jenseits des Atlantik herüberschwappt, hier einmal ganz zu schweigen – vermutlich lösen einschlägige Aktivitäten aus Ontario bei Ihnen ähnliche Verzweiflung aus wie bei mir. Nein, die Reaktion auf die staunenswerten Fortschritte der Neurowissenschaften kann nur darin bestehen, daß auf streng disziplinärer Basis an den vielen neuen spannenden Fragen, die sich nun aufgetan haben, weitergearbeitet wird – und das Berliner Bernstein-Zentrum widmet sich ja einer sehr präzisen Fragestellung, wenn es die starke Varianz der neuronalen Antwortprozesse auf identische Reize untersucht. Es tut dies im Rahmen eines nationalen Netzwerkes von Bernstein-Zentren und ich gestehe, daß die Themen der Zentren in Freiburg und München (also die Analyse von dynamischen Prozessen und die Untersuchung der Raum-Zeit-Beziehung) für meine eigenen wissenschaftlichen Fragestellungen mindestens ebenso interessant sind wie die Berliner – aber Sie werden, liebe Damen und Herren, an eine gemeinsame Präsentation von Ergebnissen aller Bernstein-Zentren auch schon vor dieser sehr spezifischen Interessenkundgebung eines Historikers im Präsidentenamt gedacht haben.

Gerade die gegenwärtige Hochkonjunktur der Neurowissenschaften – ich sagte es bereits, meine sehr verehrten Damen und Herren – gerade diese Hochkonjunktur macht deutlich, daß erst die Arbeit auf streng disziplinärer Basis auch ein wirkliches interdisziplinäres Gespräch möglich macht. Und so ist die Zusammenarbeit der Charité, der drei Berliner Universitäten und außeruniversitärer Einrichtungen wie des Max-Delbrück-Zentrums oder des Wissenschaftskollegs zu Berlin ja nicht auf Computational Neuroscience beschränkt, sondern – um nur knapp auf die Graduiertenschule „Mind and Brain“ hinzuweisen, betrifft das ganze Fächerspektrum integrativer Lebenswissenschaften, aber nicht mit dem Ziel einer erneuten Einheitswissenschaft. Eine solche Form, Humboldt ins einundzwanzigste Jahrhundert zu übersetzen, wäre ja einfach nur naiv. Wie man statt dessen auf streng disziplinärer Basis interdisziplinär arbeiten kann, zeigt ein Blick auf die Lehrer von Julius Bernstein. Der Namensgeber der Zentren studierte bekanntlich in Berlin bei Emil Du Bois-Reymond und arbeitete in Heidelberg als Assistent bei Hermann von Helmholtz. Es lohnt, Du Bois-Reymonds große Reden, beispielsweise den bemerkenswerten Vortrag „Über die Grenzen der Naturerkenntnis“ auf der Tagung der Naturforscher und Ärzte in Leipzig 1872, nachzulesen und sein Plädoyer für die Grenzen der Erkenntnis und den Zweifel auch dann ernst zu nehmen, wenn er noch lateinisch und nicht englisch formuliert: Ignoramus et ignorabimus und dubitemus; Wolf Singers Vorschlag, die skeptische Zukunftsperspektive Du Bois-Reymonds zu unterschlagen und optimistischer in die Zukunft zu blicken, überzeugt schon deswegen nicht, weil die eine gelöste Frage hundert neue, ungelöste provoziert. Und ebenso eindrücklich ist es, an Texten von Helmholtz zu erkennen, daß dieser das allgemein gültige „Prinzip der kleinsten Wirkung“ zwar für die Akademie der Wissenschaften in die Geschichte seiner Disziplin einzeichnet, aber doch nicht zu einer Totaltheorie stilisiert – methodische Bescheidenheit ist elementare Voraussetzung aller interdisziplinären Arbeit.

Das neue Gebäude des Bernstein-Zentrums, das wir heute feierlich eröffnen, steht mitten auf dem Campus Lebenswissenschaften, den die Charité und die Humboldt-Universität zu Berlin gemeinsam mit außeruniversitären Einrichtungen bespielen werden – an dieser Stelle konvergieren der Exzellenzantrag meiner Universität, der Koalitionsvertrag des Berliner Senats und die Leitperspektiven vieler uns verbundener Einrichtungen. Die geographische Lage des Zentrums ist in gewisser Hinsicht Metapher: Streng disziplinäre neurowissenschaftliche Forschung ist ein Kern der integrativen Berliner Lebenswissenschaften. Daß der Kern angemessen untergebracht ist, sollte selbstverständlich sein. Um so fröhlicher weihen wir heute diese angemessene Unterbringung ein und wünschen Ihnen für die Forschungen im neuen Hause alles erdenklich Gute.

Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität

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