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Festrede anlässlich des Festaktes zum Erscheinens der Sonderbriefmarke 400. Geburtstag Paul Gerhardt in der St. Nikolaikirche, 14.3.2007

Du meine Seele singe …
Leben mit Paul Gerhardts Liedern

Was verbindet, Frau Staatssekretärin Hendricks, Frau Ministerin Blechinger, meine Damen und Herren Staatssekretäre, verehrter Prälat Reimers und lieber Präsident Barth, meine Damen und Herren, was verbindet den Reichsfreiherrn vom Stein auf seinem westfälischen Schloß und den Jesuitenpater Alfred Delp in seiner Gefängniszelle? Was verbindet diese beiden so verschiedenen Menschen, die so unterschiedliche politische Reformvorstellungen hatten, was eint Menschen aus so unterschiedlichen Epochen? Beide wurden von Texten Paul Gerhardts getröstet, in schwierigen Situationen gestärkt und gekräftigt. Der Reichsfreiherr formulierte einen Satz, der bis heute gilt: „Ist die Predigt schlecht, so erklingt doch mitunter ein Lied von Dr. Luther oder Paul Gerhardt und wenn man fromm sein will, geht’s doch“ (Bunners, 237); der Jesuitenpater zitierte Anfang 1945 Gerhardts eigene Sterbezeile, um sich auf das eigene Sterben vorzubereiten, darin übrigens Dietrich Bonhoeffer vergleichbar, der zur selben Zeit im Gefängnis anfängliche Vorbehalte gegen die Unmittelbarkeit, mit der Paul Gerhardt gelegentlich eigene Empfindungen und Stimmungen portraitiert, aufgab und sich ebenfalls ausführlich mit dessen Texten beschäftigte und daran tröstete. Auch wenn manche Details der Sprache Gerhardts heute seltsam fremd klingen, auch wenn schon in den Buddenbrooks Tony beim Sterben ihres Bruders Thomas Buddenbrook den Gerhardt-Vers „Mach End, o Herr, mach Ende“ nicht mehr vollständig zusammenbringt – viele Menschen werden bis auf den heutigen Tag durch Gerhardts Lieder getröstet, gestärkt und im Leben gekräftigt, vielleicht gerade deswegen, weil diese Texte gelegentlich so fremd daherkommen, etwas vermitteln und zusagen, was nicht überall zu hören und zu lesen ist. „Trost und Trotz“ hat einer meiner Kollegen das genannt und das ist fast schon jene virtuose Wiederholung von Konsonanten, die Paul Gerhardt so liebt. Ja, Trost und Trotz: „Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich./ sooft ich ruf und bete, weicht alles hinter sich./ Hab ich das Haupt zum Freunde und bin geliebt bei Gott, was kann mir tun der Feinde und Widersacher Rott?“.

Zu der großen Schar von Menschen, die durch solche Verse Paul Gerhardts aufgemuntert, getröstet, gestärkt werden, zähle auch ich mich – und nur als solcher kann ich heute auch zu Ihnen sprechen. Denn mein Hauptarbeitsgebiet als Kirchenhistoriker ist die Antike, nicht die politische höchst unruhige frühe Neuzeit, in die Paul Gerhardt vor vierhundert Jahren, 1607, geboren wurde. Am Anfang meiner Beschäftigung mit Paul Gerhardt steht daher auch gar keine wissenschaftliche Analyse seiner Liedtexte oder eine Erforschung seiner streckenweise recht lückenhaften Biographie. Nein, ich habe mit Paul Gerhardt singen gelernt: „Geh aus mein Herz und suche Freud“ gehört zu den frühesten Kindheitserinnerungen, so früh, daß ich nicht einmal mehr exakt weiß, wann erstmals für mich galt: „Ich singe mit, wenn alles singt,/ und lasse, was dem Höchsten klingt,/ aus meinem Herzen rinnen“. Sicher weiß ich dagegen, daß ich Konfirmand war, als mir seine Lieder begonnen haben, das Kirchenjahr zu erschließen, Stimmungen und theologische Themen vorzugeben, weit besser als so mancher Religionslehrer und Pfarrer: „Wie soll ich dich empfangen“ im Advent, „Fröhlich soll mein Herze springen“ und „Ich steh an deiner Krippen hier“ zu Weihnachten, „Nun laßt uns gehen und treten“ am Altjahresabend, natürlich die Passionslieder wie beispielsweise „O Haupt voll Blut und Wunden“, dann Ostern „Auf, auf, mein Herz mit Freuden“ und zu Pfingsten „Zieh ein zu deinen Toren“. Noch bevor der Konfirmand sich aber mit Gerhardt das Kirchenjahr, seine spezifischen Stimmungen und theologischen Akzente erschloß, lernte der Grundschüler im Religionsunterricht einige seiner vielen Danklieder kennen: „Ich singe dir mit Herz und Mund, Herr, meines Herzens Lust“, „Nun danket all und bringet Ehr“, später dann auch „Sollt ich meinem Gott nicht singen?“. Diese Lieder rahmten und rahmen bis auf den heutigen Tag mein Erleben: „Ich weiß, daß du der Brunn der Gnad/ und ewige Quelle bist“ und „Was sind wir doch? Was haben wir/ auf dieser ganzen Erd, das uns, o Vater, nicht von dir/ allein gegeben wird?“. Gerhardts Texte sind deswegen so eingängig, weil sie die großen theologischen Weisheiten mit den Alltäglichkeiten des Lebens verbinden, das welterhaltende Wirken des Schöpfers aller Dinge mit eben dem Öl, das ich in meinen Salat kippe und dem Most, den ich in irgend einer beliebigen Kneipe im Herbst trinke und mich daran erfreue, daran, „daß man Öl und Most zu seinen Zeiten find’t“. Die hohe Theologie mitten im Alltag unseres Lebens, dort, wo sie ja auch hingehört.

So, wie Gerhardt dem Dank einen theologischen Rahmen gibt, weil er das Glück des Alltags mit „des großen Gottes großem Tun“ verbindet, so rahmt er auch die Klage, begrenzt sie, fängt sie gleichsam ein. Tut dies wieder so, daß er den ganz individuellen alltäglichen Kummer, Sorg und Schmerzen mit dem großen, gnädigen Heilshandeln Gottes verbindet: „Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann“. Auch hier wäre von frühen Erfahrungen des Kindes, des Schülers, des Konfirmanden zu erzählen, und das, obwohl er auf Ganze gesehen eine sehr fröhliche und behütete Kinderzeit verbracht hat. Gerhardts Texte und insbesondere seine großen Trostlieder schreiten Wege ab, erinnern den, der sie singt, zunächst an sein Wissen: „Nun weiß und glaub ich feste,/ ich rühm’s auch ohne Scheu,/ daß Gott, der Höchst und Beste,/ mein Freund und Vater sei/ und daß in allen Fällen/ er mir zur Rechten steh/ und dämpfe Sturm und Wellen/ und was mir bringet Weh“. Gerhardts Trostlieder beschreiben dann „Furcht und Schrecken“ so, daß wir darin unsere eigene Furcht erkennen, Sturm und Wellen meines Lebens und was mir gerade bringet Weh. Und sie leiten schließlich dazu, daß wir auch in unserem eigenen Leben nach eben den süßen Trostworten suchen, die er uns zuspricht, nach dem Geist, der schon längst im Herzen wohnt, „vertreibet Sorg und Schmerzen,/ nimmt allen Kummer hin,/ gibt Segen und Gedeihen“. Führen schließlich in die Gewißheit des Trostes: „Warum sollt ich mich denn grämen?“ und ermuntern uns, aus solchem Trost nicht ohne Not herauszufallen: „Wohl dem, der einzig schauet/ nach Jakobs Gott und Heil!/ Wer dem sich anvertrauet, der hat das beste Teil,/ das höchste Gut erlesen,/ den schönsten Schatz geliebt;/ sein Herz und ganzes Wesen/ bleibt ewig unbetrübt“. Gerhardts Lieder sind, wie jüngst formuliert wurde, „kompetente Übergangsbegleiter in heikle Passagen des Lebens“: Kummer und Schmerzen, Not und Elend, Krankheit und Tod.

Von Not und Elend, von Krankheit und Tod ahnt ein Kind, das behütet aufwächst, ja allenfalls. Aber schon das Kind, der Schüler, der Konfirmand spürte die Tiefe der Texte Gerhardts, empfand fast unwillkürlich ihre existentielle Tiefe und ahnte wenigstens auch ihre theologische Tiefe. Ein Zeichen eben dieser theologischen Tiefe – vielleicht sogar das Zeichen ihrer theologischen Tiefe – ist es, daß man beim Singen jener Lieder lernt, auch die eigene Theologie zu vertiefen, gerade auch als Student der Theologie, als Pfarrer, als Professor. Das läßt sich an praktisch jedem Text zeigen, auch und gerade an den sehr bekannten: Neun Strophen lang geht es um die „liebe Sommerszeit“, um „Narzissus und die Tulipan“, um „die Lerche“ und „das Täublein“ – und dann, wenn man’s uns denn singen läßt –, ist fast unvermittelt von der „letzten Reis“ die Rede und ist plötzlich kein Zweiglein irgendeines sommerlich grünenden Baumes mehr gemeint. Vielmehr ist von „dem reichen Himmelszelt“ die Rede, davon, daß wir nach unserem Tod vor Gottes Thron immer noch singen werden, tausend schöne Psalmen in seinem Paradies. Solche fast unwillkürlichen Bewegungen der Texte Gerhardts vom Diesseits zum Jenseits hin meine ich vor allem, wenn ich von theologischer Vertiefung rede, zu der uns die theologische Tiefe seiner Texte hilft, mindestens helfen könnte: Paul Gerhardt hilft uns, auch von den letzten Dingen existentiell zu sprechen, so, das es nicht wie irgendeine kluge Theologenvorlesung de novissimis klingt – könnte uns jedenfalls helfen. Wenn wir auch die hinteren Strophen seiner Lieder singen, Strophe neun fortfolgende von „Geh aus mein Herz und suche Freud“ beispielsweise. Und es sind ja keinesfalls immer die letzten Strophen. Wer weiß schon, daß die Weisheit unserer Gesangbuchkommissionen aus dem so fröhlichen Psalmlied „Du meine Seele, singe“ gleich nach der eröffnenden Strophe zwei weitere weggekürzt hat:
Ihr Menschen, laßt euch lehren,
Es wird sehr nützlich sein:
Laßt euch doch nicht betören
Die Welt mit ihrem Schein.
Verlausse sich ja keiner
Auf Fürstenmacht und =gunst,
Weil sie wie unser einer
Nichts sind, als nur ein Dunst.

Was Mensch ist, muß erblassen
Und sinken in der Tod:
Er muß den Geist auslassen,
Selbst werden Erd und Kot.
Allda ists dann geschehen
Mit seinem klugen Rat
Und ist frei klar zu sehen,
Wie schwach sei Menschentat.

Natürlich. Das ist barockes Welttheater, theatralisch höchst gekonnt aufgeputzte vanitatum vanitas–dieser Gerhardt fehlt, kaum verwunderlich, weitgehend in unseren Gesangbüchern und wird in unseren Kirchen auch kaum gesungen, obwohl in den zitierten beiden Strophen fast nur biblische Metaphorik verwendet wird, um Verse eines alttestamentlichen Psalms auszulegen. Nicht, daß ich an dieser Stelle mißverstanden werde: Der Theologe Paul Gerhardt vertröstet nicht in jener billigen, in jener unerträglichen Weise aufs Jenseits, daß er diese irdische Welt zum Jammertal herunterschreibt und, wie im Salzburger Welttheater, den Sensenmann an die Tafel des reichen Prassers holt. Gerhardt hält uns vielmehr dazu an, mitten im Alltag, mitten im Diesseits unseres Lebens, Gottes kleine Wunder aufzuspüren – ein einziges Beispiel und wieder aus „Du meine Seele singe“: „Macht schöne rote Wangen/ oft bei geringem Mal“. Aber es wäre eine kaum erträgliche Verkürzung, ein Vorbeimogeln an der Tiefe der Texte Gerhardts, wenn wir jene Bewegung vom Diesseits hinein ins Jenseits, die seine Lieder prägt, nur deswegen ausblenden, weil unserer Zeit das Reden über dieses Jenseits so unendlich schwer fällt. „Ich bin nur ein Gast auf Erden und hab hier keinen Stand/der Himmel soll mir werden, da ist mein Vaterland“. Gerhardts Worte treffen so oft unser eigenes Erleben und liegen uns doch manchmal weit voraus. Und entfalten dann ihre eigentümliche Kraft, wenn wir uns von ihnen ziehen lassen.

Noch einmal: Eine Bewegung vom Diesseits unseres Lebens hinein ins Jenseits prägt Gerhardts Texte, aber diese Bewegung führt an keiner Stelle dazu, daß die Wunder der bunten Gnade Gottes mitten im Alltag unseres Lebens außer Blick geraten: „Macht schöne rote Wangen/ oft bei geringem Mal“. Ich kann mir nicht helfen: Exakt so hat Martin Luther auch gedacht. Mit seiner fast zärtlichen Anteilnahme am Alltag, beispielsweise in seinen Trostbriefen, mit seiner höchst sensiblen Aufmerksamkeit für die vielfältigen Gnadengeschenke Gottes mitten im Alltag unseres Lebens und den großen Worte der Dankbarkeit dafür. Theologie Luthers ist ars moriendi, die Kunst, das Sterben zu lernen und eben darin zu leben, ars moriendi als die eigentliche ars vivendi: „Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werke verkündigen“. Paul Gerhardt ist exakt in diesem Sinne auch und gerade in seinen Liedern lutherischer Theologe, Theologe in der Tradition Martin Luthers. Sein Wirken fällt nicht, wie einige gelehrte Interpreten meinten und bis auf den heutigen Tag meinen, auseinander in eine moderne und in eine vormoderne Seite – sein scheinbar so moderner Zug, durch sein existentiell dichtes Reden vom Erleben des eigenen Ichs den neuzeitlichen Individualismus und Subjektivismus vorweggenommen zu haben, gehört unmittelbar zu seinen vormodernen Zügen. Natürlich wirkt Paul Gerhardts strenges Festhalten am Bekenntnis, an der Konkordienformel, auf die er schon als Grimmaer Fürstenschüler verpflichtet wurde, vormodern; als vormodern empfinden wir heute insbesondere seine heftige Polemik gegen die Reformierten während des Berliner Religionsgesprächs – am 19. Mai 1663 hat Paul Gerhardt bekanntlich nach allen Regeln der klassischen philosophischen Logik zu beweisen versucht, daß die Reformierten keine Christen seien, mit seinen eigenen Worten „daß unter den Reformierten quatenus tales (als solchen) Christen, also meine Mitchristen, meine Mitbrüder, meine Mitglieder seien, hoc est, quod nego (das ist, was ich verneine)“. Aber wer je nur eine Zeile von Martin Luther gelesen hat, weiß wohl, daß beim Reformator die uns so liebe und scheinbar so moderne Sensibilität ganz eng mit der uns so fremden und scheinbar so vormodernen Schroffheit verbunden ist. An dieser Stelle ist Paul Gerhardt lutherischer Theologe – und es lohnt sich, mindestens einmal darüber nachzudenken, ob Trost und Trotz nicht tatsächlich enger zusammengehören, als wir heute gewöhnlich meinen, auch wenn Jahrzehnte nach den Lehrkonkordien von Arnoldshain und Leuenberg heute gewiß kein verantwortlich denkender lutherischer Theologe mehr den Reformierten das Christsein abspricht und das Stichwort „Ökumene der Profile“ ja auch nicht meinen kann, daß wir nun wieder alle wie Gerhardt von „Papisten“ reden.

Wie auch immer wir nun heute das rechte Gleichgewicht von existentieller Sensibilität und konfessioneller Stabilität bestimmen wollen – Paul Gerhardt lädt uns mit seinen Liedern zu theologischer Vertiefung auch an diesem nervösen Punkt der gegenwärtigen Debatte um die Zukunft der evangelischen Kirche ein, ja mehr, zieht uns unwillkürlich in eine solche Vertiefung der Diskussionen über die Zukunft des Christentums, gerade weil er so tief existentiell redet und dichtet. Weil er, wie Elke Axmacher immer wieder betont hat, theologische Lehre als persönliches Glaubensgeschehen meditativ vergegenwärtigt und einprägt. Und so kann am Schluß meiner Bemerkungen nur die Aufforderung stehen, seine Texte fleißig zu singen und mit Verstand, aber auch mit allen Sinnen zu singen: „Du meine Seele, singe,/ wohlauf, und singe schön“.

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