Humboldt-Universität zu Berlin

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Grußwort anläßlich der Eröffnung des Interdisziplinären Zentrums „Genetische Variabilität und Anpassungsfähigkeit“, 30.10.2006

Verehrte, liebe Frau Brockmann, verehrter Herr Kollege Pääbo, sehr geehrte Herren Kollegen Graner und Schuster, Kolleginnen und Kollegen, Studierende, meine Damen und Herren,

ein unvergeßlicher Morgen. Im Jahr 2000 war es, am 27. Juni, ein Dienstag, wenn ich mich recht erinnere. Der damals in Heidelberg lehrende Kirchenhistoriker Markschies nahm wie gewöhnlich die Frankfurter Allgemeine Zeitung zur Hand, schüttelte das Feuilleton heraus – und erblickte statt kluger, gewitzt überschriebener Artikel und sorgfältig gewählter Photographien sechs Seiten unter der Überschrift „Das Schlußkapitel im Buch des Lebens“ mit für den Laien vergleichsweise wenig aufschlußreichen Buchstabensequenzen in der Art „GAGGAT GTGGAG AAATAG“ – Sie werden sich wahrscheinlich erinnern: Die Zeitung hatte die Sequenzen von etwa 0,1 Prozent des Genoms abgedruckt und damit einen recht originellen Beitrag in dem gewaltigen Medienecho geleistet, das die Nachricht gefunden hatte, rund siebenundneunzig Prozent des menschlichen Genoms seien entschlüsselt. In den folgenden Tagen verfolgte der gänzlich fachfremde, aber doch immerhin an solchen wichtigen Entwicklungen von wichtigen Nachbarfächern interessierte Kirchenhistoriker einigermaßen amüsiert die arg gravitätischen Schlagzeilen anderer Medien: Der Spiegel sprach von einer „zweiten Schöpfung“, „Bild“ nannte es „nur eine Frage der Zeit, bis sogar der Krebs besiegt ist“ und „Le Monde“ verglich die Erbgut-Entschlüsselung mit der Entdeckung Amerikas.

Einigermaßen amüsiert las ich damals die sechs Seiten des Frankfurter Feuilletons und erst recht die enthusiasmierten Schlagzeilen der weniger gewitzten Redaktionen, weil die seriösen Wissenschaftler den Enthusiasmus der Laien ja schnell unter der Überschrift „Nun wir haben also die Buchstaben des Lebens – aber wir können sie gar nicht recht lesen“ relativierten und insofern der Laieneindruck beim Lesen des Frankfurter Feuilletons – nämlich der völliger Unverständlichkeit – vom Eindruck des Gelehrten gar nicht so vollständig entfernt zu sein schien. In einer der nächsten Nummern der Frankfurter Allgemeinen bemerkte der Biochemiker Friedrich von Bohlen und Halbach: „Es ist so, als ob man den kompletten Buchstaben- und Zeichensatz eines Buches entdeckt hat, leider aber die benutzte Sprache und Syntax nur teilweise kennt. … Jetzt werden also Interpreten und Übersetzer benötigt“. Der größte und schwierigste Teil der Arbeit beginne jetzt erst, nämlich die Funktion der Gene zu analysieren.

Wenn ich es recht sehe, liebe Frau Brockmann, lieber Herr Pääbo, darf man die Arbeit des Zentrums, das wir heute eröffnen, in diesen großen Zusammenhang einordnen: Sie helfen, wenn ich das so laienhaft sagen darf, lesen. Sie helfen den Fachleuten, aber damit im Grunde auch den Laien, zu lesen, im Buch des Lebens zu lesen, wenn wir die pathetischen Formulierungen der Feuilletons aufgreifen wollen. Ob wir das freilich sollten, scheint mir fraglich. Denn die, die mit den pathetischen Formeln hantieren – also vom „Buch des Lebens“ sprechen und einer „zweiten Schöpfung“ faseln, provozieren schnell auch Pathos bei den Gegnern. Wir alle erinnern uns an den Vorwurf, der ganzen gentechnischen Forschung läge „therapeutischer Nihilismus“ zugrunde, und es sei ein Kulturkampf ausgebrochen zwischen den Verfechtern eines „christlich, zumindest kantianischen Menschenbilds“ und denen eines eher „szientistisch-sozialdarwinistischen Menschenbilds“. Bei aller großen Hochachtung für den klugen Germanisten, der diese kritischen Zwischenrufe seinerzeit formulierte – mir liegt als evangelischem Theologen im Präsidentenamt zunächst einmal daran, daß das große Pathos auf beiden Seiten durch Versachlichung aus der Debatte kommt und in jedem Fall die Dämonisierung ganzer Forschungsbereiche vermieden wird.

Auf der anderen Seite, liebe Frau Brockmann, meine Damen und Herren, geht es mindestens bei der Kommunikation von Wissenschaft in der Öffentlichkeit nicht ohne ein gewisses Maß an Pathos ab. Hubert Markl hat einmal in einem Interview begründet, warum er ungeachtet aller Probleme eines solchen Vergleichs die Nachricht von der Entschlüsselung des menschlichen Genoms mit der Mondlandung verglichen hat: „Der Vergleich ist dennoch richtig, weil dieses Ereignis die Phantasie und das Interesse von Abermillionen Menschen erfaßt hat. Es ist ja nicht so häufig, daß in der Wissenschaft die Möglichkeit besteht, so viele Menschen für ein Ergebnis aus Wissenschaft oder Technik zu begeistern. Das war bei der Mondlandung der Fall, wir haben uns die ja alle nachts am Fernseher angesehen“. Und die Berichte über die Mondlandung und die fast abgeschlossene Sequenzierung des menschlichen Genoms sind ja auch darin vergleichbar, daß die Bedeutung der Raumfahrttechnologie weniger in Mondlandungen als in den Kommunikationssatelliten liegt und die Bedeutung der Genomforschung sich sicher nicht in der vollständigen Sequenzierung erschöpft.

Und worin liegt die Bedeutung dieser Forschung dann? Der Geisteswissenschaftler im Präsidentenamt hat sich in den vergangenen Monaten bemüht zu verstehen, was Sie hier eigentlich tun werden, liebe Frau Brockmann. Er wird sich natürlich hüten, das Ergebnis seiner Versuche, gar mit eigenen Worten, vor so viel kundigen Menschen auszubreiten und damit an einem Beispiel für alle nachvollziehbar zu dokumentieren, wie groß der Nachholbedarf deutscher Geisteswissenschaften im Blick auf die naturwissenschaftliche Seite der Lebenswissenschaften ist. Deswegen deutet er nur zaghaft an, daß der Beitrag des Zentrums für genetische Variabilität und Anpassungsfähigkeit dieser Universität für die Lebenswissenschaften an unserer Universität doch auch darin bestehen könnte, neben aller Arbeit am Detail für eine größere Öffentlichkeit darzustellen, wie sich genetische Verwandtschaft darstellt, worauf sie beruht und auf diese Weise Darwins Theorie der Verwandtschaft aller Organismen, die zu Lebzeiten höchst umstritten war, nachvollziehbarer zu machen. Damit will ich überhaupt nicht klein reden oder gar vergessen machen, daß die Erforschung genetischer Variabilität und Ähnlichkeit erhebliche Bedeutung für den konkreten Forschungsalltag, etwa die Bekämpfung von Krankheiten, hat, mithin einen Wert in sich, der keiner beständigen Argumentation durch vollmundige Rechtfertigungen bedarf. Da diese Forschung die klassischen Disziplingrenzen überschreitet, lag es auch vollkommen nahe, sie als interdisziplinäres Zentrum zu organisieren – in dieser Form hat unsere Universität bekanntlich bisher die Schwerpunkte ihrer interdisziplinären Arbeit organisiert und wird es auch künftig tun. Allerdings ist, glücklicherweise angestoßen durch den Exzellenzwettbewerb, aber nicht allein auf ihn bezogen, auch deutlich geworden, daß neben einer größeren Zahl von interdisziplinären Zentren auch klare und eindeutige Forschungsprofile der ganzen Universität festgelegt und finanziert werden müssen. Das Zentrum für genetische Variabilität ist ein Teil unseres Forschungsschwerpunktes in den Lebenswissenschaften, der – wie ich als Geisteswissenschaftler immer wieder sage – integrativ angelegt sein soll, also die Geistes- und Naturwissenschaften mit einander ins Gespräch bringen soll. Mir ist aber genauso wichtig, daß dieser Schwerpunkt auf der Basis von naturwissenschaftlicher Forschung auf höchstem Niveau ruht und die interdisziplinäre Zusammenarbeit kein Tagtraum eines naiven Geisteswissenschaftlers bleibt. Interdisziplinäre Schnittstellen zwischen verschiedenen Forschungsfeldern, auch zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften, können nur gefunden werden, wenn die jeweilige disziplinäre Forschung ihre Arbeit auf höchstem Niveau durchführen kann. Für mich ist das Interdisziplinäre Zentrum für genetische Variabilität und Anpassungsfähigkeit schon deswegen ein wichtiger Baustein in für die Lebenswissenschaften; außerdem trägt es mit seiner fachübergreifenden Ausrichtung entscheidend zu der weiteren Vernetzung universitärer und außeruniversitärer Einrichtungen, Institute und Fakultäten bei, die im Interesse von Lehre und Forschung bekanntlich nachhaltig gesteigert werden muß – die Anwesenheit von Herrn Pääbo ist ein wunderbares Zeichen dafür, wie weit diese Anstrengungen schon im Umfeld der Eröffnung des Zentrums gediehen sind.

Hubert Markl sagte im Umfeld jenes Tages, an dem ich in Heidelberg leicht verwundert das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung las: „Und jetzt geht die Arbeit erst los. Wir müssen herausfinden, was diese Sequenz wirklich bedeutet und wie die darin enthaltenen Informationen die Funktionen eines Organismus steuern“. Das Zentrum, das wir heute feierlich eröffnen, leistet seinen Beitrag zu dieser großen Forschungsaufgabe und ich wünsche ihm wie Ihnen, liebe Frau Brockmann ganz persönlich, für diese zentrale Arbeit allen erdenklichen Erfolg.