„Aufgedeckt und rumgedreht“ – Bewegte Geschichten auf fliegenden Blättern
Grußwort zur Eröffnung der Ausstellung, Foyer der Humboldt-Universität, 15.12.2006
Omnis caro faenum et omnis gloria eius quasi flos agri/ exsiccatum est faenum et cecidit flos, quia spiritus Domini sufflavit in eo – „alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, denn des Herren Odem bläst darein“. Man kann einen solchen biblischen Satz wie Johannes Brahms mit musikalischen Mitteln so ausmalen, daß es einem schauert. Man kann aber auch – und damit bin ich nun endgültig bei der Ausstellung – diesen Satz durch ein Flugblatt illustrieren, das eben dies beides zeigt: Die Herrlichkeit, lateinisch: gloria, Zierde, Ruhm und Ehre eben dieses Fleisches, des Körpers und seiner Körperlichkeit, wie wir heute sagen würden, auf einem Blatt und das verdorrte und verwelkte Fleisch auf einem anderen Blatt – das steht, wie wir so zu sagen pflegen – auf einem anderen Blatt, das freilich bei den Stücken hier und heute aufeinander montiert ist. Ich kann mir eigentlich keine optisch eindrücklichere Umsetzung des barocken vanitas-Gedankens vorstellen als eben solche klappbaren Flugblätter, auf denen der Umschwung von Ruhm und Schönheit zu Staub und Verdorren so eindrücklich im Nu erlebbar ist. „Wo ist der Gärten Pracht, der Blumen Königin, der Augen liebe Lust, die Anemone hin? Die so nur gestern noch in ihrem Purpurmunde und keuschem Angesicht allhier zugegen stunde? Wo ist denn heut ihr Schmuck, ihr Wollust-volles Häupt, und miteinander sie? Sie ist schon abgeleibt“ heißt es in Paul Flemmings „Teutschen Poemata“ von 1642; „Was sind wir Menschen doch?“ fragt Andreas Gryphius und antwortet: „ein Wohnhaus grimmer Schmerzen, ein Ball falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit, ein Schauplatz herber Angst, besetzt mit scharfem Leid, ein bald verschmelzter Schnee und abgebrannte Kerzen. … Was sag ich? Wir vergehen wie Rauch von starken Winden“.
Der Historiker mag solche starken Töne, mag die schroffen Dualismen von Dichtung, Theologie und Alltag der frühen Neuzeit, die Dualismen, von denen uns die Flugblätter künden, erklären: Gewißheit angesichts des Abgrundes von Krieg und Seuche, Theater als Weltbewältigung – wir kennen ja alle die Barock-Theorien aus Literatur- und Kulturwissenschaft und ich brauche sie nicht zu rezitieren. Der Kirchenhistoriker wird ungeachtet aller ökumenischen Aufgeschlossenheit auch ein gewisses, mindestens historisches Verständnis für die schroff dualistische Konfessionspolemik aufbringen, für die das Medium Flugblatt auch vorzüglich geeignet ist – wirkungsvoller kann man kaum die Botschaft, daß der Papst in Wahrheit der Antichrist ist, sich hinter seinen edlen Zügen die häßliche Fratze des Teufels verbirgt, ausdrücken. Wie gesagt, historisch alles verständlich und doch meilenweit von unserer, hoffentlich um vieles differenzierteren Wirklichkeitswahrnehmung entfernt – möchte man jedenfalls hoffen. Und doch im Advent, in Vorbereitung auf Weihnachten und am Ende eines ersten Jahres einer Präsidentschaft denken, daß mindestens die Warnung vor der Vergänglichkeit allen menschlichen Tuns, die aus diesen Flugblättern spricht und mit ihnen so eindrücklich greifbar wird, auch uns hier erreicht. Denn, meine Damen und Herren, ohne ein solches Bewußtsein der Vorläufigkeit unseres Tuns, der Empfindung, daß manche Züge unseres Wissenschaftsbetriebes nichts anderes sind als Haschen nach Wind, werden wir eitel und stolz – und produzieren schlechte Wissenschaft. Selbstkritik tut besonders in Zeiten eines auf das Höher, Schneller, Weiter fixierten Wissenschaftsbetriebes not. Dies kann und will uns diese Ausstellung auch lehren und dafür ist den Verantwortlichen zu danken.
Das Hermann-von-Helmholtz-Zentrum eröffnet mit dieser Sammlung von
Flugblättern seine erste Ausstellung mit einem explizit
geisteswissenschaftlichen Thema, das freut nicht nur den
Geisteswissenschaftler im Präsidentenamt, sondern ist eine schöne
Ankündigung des „Jahres der Geisteswissenschaften“, das im Jahre 2007
unter den Auspizien des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im
Januar eröffnet und dann ein ganzes Jahr gefeiert werden wird. Unsere
Ausstellung ist sozusagen ein Angeld, um noch einmal biblisch zu
formulieren, ein Appetithappen für dieses Jahr. Gleiches gilt auch für
das Humboldt-Forum: Auch hier ist unsere Ausstellung ein Angeld und ein
Appetithappen. Zwar hat sich das Land Berlin laut des jüngst
unterzeichneten Koalitionsvertrages aus der Finanzierung des
Humboldt-Forums zurückgezogen und möchte lediglich das Grundstück am
Schlossplatz einbringen, aber wir – also Klaus-Dieter Lehmann von der
Stiftung Preußischer Kulturbesitz und ich wie auch die übrigen
Verantwortlichen halten natürlich an dieser für unser
Universitätskonzept „Humboldt ins 21. Jahrhundert übersetzen“ zentralen
Idee fest. Es werden baldigst Gespräche mit dem Bund stattfinden, ob
der Bund die Anteile übernimmt, die notwendig sind, um die Anteile der
Humboldt-Universität am Konzept zu realisieren oder ob wir Sponsoren
gewinnen müssen. Ich habe im Sommer gemeinsam mit Klaus-Dieter Lehmann
noch einmal das Konzept einer gemeinsamen Präsentation von Sammlungen
wie aktueller Forschung, die Inszenierung von Wissenschaft zu
außereuropäischer Kultur, erläutert und vorgestellt und will das heute
nicht erneut ausführlich tun – man kann es schließlich im Internet
nachlesen und jetzt kommt es auch eher auf detaillierte Umsetzung an,
auf mindestens zeichenhafte Realisierung, wie sie hier und heute
geschieht. In den nächsten Jahren werden wir diese zeichenhaften
Realisierungen fortsetzen, das Angeld weiter auszahlen und die
Appetithappen immer wieder anbieten – vor allem auch im Vorfeld des
Jubiläums unserer Universität im Jahre 2010, in dessen Rahmen eine
große gemeinsame Jubliäumsausstellung von Berlin-Brandenburgischer
Akademie, Charité und Humboldt-Universität Geschichte und Gegenwart
Berliner Wissenschaft als Antwort auf die großen existentiellen Fragen
der Gesellschaft inszenieren wird. Das alles ist Zukunftsmusik, wiewohl
wir für die Aufführung längst proben, heute ein prélude, ein
praeludium für das alles und zugleich eine wunderbar tiefsinnige
Ausstellung. Den Verantwortlichen tausend Dank, der Ausstellung viele
interessierte Besucher und uns allen einen schönen Abend!
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität