Humboldt-Universität zu Berlin

Grußwort zur Erner-Reihlen-Vorlesung

21. November 2006

Darf ich, lieber Herr Gestrich, lieber Herr Reihlen,
zu Beginn meines Grußwortes etwas tun, was dem Genre des Grußwortes so gar nicht entspricht? Darf ich beispielsweise darauf verzichten, ausführlicher zu betonen, daß die Reihlen-Vorlesung auch in diesem Jahr wieder eine Zierde des wissenschaftlichen Programms dieser Universität ist? Darf ich darauf verzichten, Ihnen, lieber Herr Kollege Gestrich ausführlich für die jahrelange Organisation, Moderation und Publikation der Vorlesungen zu danken? Darf ich darauf verzichten, erneut etwas über die Lebenswissenschaften zu sagen, die – in einem umfassenden Verständnis des Begriffs – das Profil der Humboldt-Universität prägen und zu deren vertieften Verständnis diese Tagung einen Beitrag leistet? Ja, das darf ich, wenn ich mitten hinein in das Thema dieser fünfzehnten Werner-Reihlen-Vorlesung ziele und abweichend vom Genre eines solchen Grußwortes zunächst einmal mein Nichtwissen bekunde und die Erwartung, daß es hier und heute, und morgen am selben Ort mindestens ansatzweise behoben wird.

Ein klassischer Kirchenhistoriker – und das hoffe ich auch und gerade im neuen Amte zu sein – geht von Ideen aus und großen Persönlichkeiten, die die Geschichte beeinflussen, vielleicht kann ich sogar sagen: steuern. Und mir scheint, daß trotz aller Kritik an diesen Grundprinzipien einer klassischen, idealistisch gefärbten Geschichtstheorie eine Theologie auf solche Annahmen auch gar nicht verzichten kann: Die Wirkung von Jesu Wort, Werk und Person kann nicht abseits solcher Grundannahmen verstanden werden. Ich muß aber ungeachtet aller hier dokumentierter Standfestigkeit in Prinzipienfragen bekennen, daß mir zunehmend die Ergänzungsbedürftigkeit der beiden genannten Grundannahmen deutlich geworden ist – und das hängt am Thema der Heilung oder Gesundung, wie man in Aufnahme des Titels der Reihlen-Vorlesung auch formulieren könnte. Ich beschäftige mich seit nunmehr fünf Jahren mit dem Phänomen religiös grundierter Heilung, vor allem mit Heilung im Schlaf – technisch: mit der Inkubation; Frau Hollnagel wird morgen früh über die pagane Vorgeschichte der christlichen Inkubation berichten; ich beschäftige mich seit fünf Jahren damit, aber verstehe etwas Grundlegendes noch nicht, das im Titel dieser Vorlesung so selbstverständlich zusammengebunden ist: Gewiß, in diesen religiös grundierten Heilweisen werden Menschen an Leib und Seele gesund. Aber wie genau hängen diese beiden Vorgänge, wenn sie denn überhaupt separiert werden, zusammen? Bedeutet das Wort „gesund werden“ in beiden Vorgängen überhaupt dasselbe? Oder verwenden wir es im Blick auf die Seele in übertragener Bedeutung, metaphorisch? Was bedeutet überhaupt: „Seele“? Ich bin so theologisch erzogen worden, daß der Terminus psyché, anima, primär auf theologie- und philosophiegeschichtliche Sachverhalte verwies, aber kein zentrales Konzept meiner eigenen Anthropologie darstellte, wenn ein Kirchenhistoriker so etwas überhaupt hat, eine eigene Anthropologie und nicht, wie in vielen Bereichen der historischen Theoriebildung mit vortheoretischen, präthematischen Konzepten arbeitet. Aber nun nehme ich ja durchaus wahr, daß bestimmte Theologen den Seele-Begriff rehabilitieren (man denke nur an einen Kollegen in Halle) und habe im vergangenen Semester in einem gemeinsamen Seminar mit Dominik Perler gelernt – und Herr Gestrich hat ja auch teilgenommen –, daß man auf aristotelischer Basis unter Seele gar keine stabile Entität im Sinne einer materiellen Substanz wie Magen oder Darm verstehen muß, sondern ein Bündel von Funktionen materieller Substanzen. Wie, verehrte Damen und Herren, kann aber ein Bündel von Funktionen „gesund werden“ – geht es, eigentlich gesprochen und nicht metaphorice – um die Behebung von Funktionsstörungen? Mir scheint, daß die konsensfähige Klärung der Frage, was der Seelenbegriff in der Theologie eigentlich bedeuten, was er bezeichnen kann, die Voraussetzung für Klärungen bei der Frage sind, inwiefern leibliche und seelische Gesundung miteinander zusammenhängen, inwiefern Heil und Heilung aufeinander bezogen sind.

Wir wissen aus der Statistik, daß religiöse Menschen unter Umständen – aber, so fragt man sich angesichts von Tilmann Moser natürlich: unter welchen? - leichter gesunden. Wir, wenn ich so für Dorothea Hollnagel, Jannis Politis und mich sprechen darf, wissen auch, daß religiöse Heilung christlicher wie paganer Provenienz in der Antike erfolgreich war. Sie können all’ dies in einer wunderbaren Ausstellung im medizinhistorischen Museum der Charité bis März noch bewundern: Wunderheilungen in der Antike. Von Asklepios zu Felix Medicus, geöffnet Dienstag bis Sonntag von 10-17 und Mittwochs bis 19 Uhr. Nochmals: Wir wissen, daß religiöse Heilung erfolgreich war und ist. Wissen wir schon genügend, warum? Und wissen wir, was an die Stelle dieser religiös grundierten Heilweisen treten kann, wenn wir – Gott sei dank – seit Jahrhunderten einen hochprofessionalisierten Stand von Ärzten haben, die unabhängig vom Einkommen von Menschen jeder Couleur konsultiert werden können oder jedenfalls konsultiert können werden sollten? In Zeiten, in denen sehr heftig über das Gesundheitssystem debattiert wird, über die Christlichkeit christlicher Krankenhäuser – da könnte ich auch als Johanniter ein langes, teils garstiges Lied davon singen –, interessieren die Antworten auf meine Fragen nicht nur ein einzelnes Forschungsprojekt der Humboldt-Universität. Sie sollten die ganze Universität interessieren, die gebildete Berliner Öffentlichkeit – und in diesem Sinne heiße ich Sie alle sehr, sehr herzlich willkommen und danke, keineswegs dem Genre allein geschuldet, der vorbereitenden Gruppe wie Schar und insbesondere Herrn Kollegen Gestrich sehr, sehr herzlich.

Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität

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