Jena Paradies … oder: die Universität Jena, von Berlin aus betrachtet
„Jena Paradies“ ist, lieber Kollege Dicke, Prorectores, Spectabiles, Kolleginnen und Kollegen, lieber Altkanzler Kübel, meine Damen und Herren, „Jena Paradies“ ist zunächst einmal der Name einer Bahnstation, einer Bahnstation, die sich in den acht Jahren seit meinem Weggang aus Jena drastisch verändert hat und in ihrem Wandel als ein Gleichnis für meine sechs Jenaer Jahre und die seither vergangene Zeit dienen kann. In den ersten Monaten habe ich „Jena Paradies“, ich muß es ehrlich gestehen, einfach ignoriert. Zu meinem Probevortrag vor der Theologischen Fakultät im Januar 1994 bin ich zwar mit der Bahn angereist, man verließ aber damals auch die Fernzüge noch auf dem Saalbahnhof, der vor vierzehn Jahren reichlich heruntergekommen aussah. Nachdem ich meinen Probevortrag gehalten und das anschließende Kolloquium abgeschlossen hatte, brachte mich ein Assistent zum Westbahnhof und verabschiedete mich dort betont herzlich in Vorfreude auf baldiges Wiedersehen in Jena – da sich dieser emphatische Abschied bald als prophetischer Akt herausstellte, hielt ich natürlich für lange Zeit den Westbahnhof, den Ort solcher orakulöser Offenbarungen, für die eigentliche Zentralstation Jenas. Die erste wirkliche Begegnung mit der Station „Jena Paradies“ erfolgte im Februar 1995, als Möbelwagen den Hausrat aus Tübingen brachten, aber die rechtzeitig bestellte neue Küche noch nicht geliefert worden war. Da dämmerte meiner Frau und mir bald, daß wir, wollten wir nicht verhungern, über einige Wochen auf Restaurants würden angewiesen sein, begannen Lokal um Lokal der Stadt auszuprobieren (die Zahl war damals durchaus noch überschaubar) und starteten mehr zufällig in der Pizzeria im alten Empfangsgebäude der Bahnstation „Jena Paradies“. Jenes Ristorante San Marino blieb, obwohl sich die Bahnstation so drastisch wandelte wie auch die ganze übrige Stadt: Dort, wo ein wunderbarer Stadtsee mit mediterranem Flair hätte entstehen können, entstand die Goethegalerie und die alten Bahnsteige des Haltepunktes Jena Paradies an der Pizzeria wurden durch lange Holzstege ohne Überdachung ergänzt, ein Erfolgsmodell, das die Deutsche Bahn für den Berliner Hauptbahnhof auch gegen Willen des Architekten von Gerkan zu übernehmen versucht hat. Während sich die Stadt und ihre Bahnhofslandschaft beständig veränderten, saß ich mit den Kollegen aus dem seinerzeit in der Nähe gelegenen Institut für Altertumswissenschaften immer wieder einmal im nämlichen Lokal, beispielsweise nach Treffen des Graduiertenkollegs „Leitbilder der Spätantike“, an dem ich als Heidelberger und dann Berliner Ordinarius leider nur noch sehr aus der Ferne Anteil nehmen konnte.
Nun sollte man zu so festlicher Stunde die kostbare Zeit am Schillertag nicht mit rein privaten Erinnerungen, gar mit mehr oder weniger ernst gemeinten Sottisen vertändeln; Sie ahnen längst, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß ich mit dem Stichwort „Jena Paradies“ mehr und anderes meine als nur einen im ständigen Wandel begriffenen Haltepunkt an der Saalbahn. Nein, mit dem nämlichen Stichwort „Jena Paradies“ möchte ich meinen Blick auf die Universität Jena, von Berlin aus betrachtet, überschreiben und beschreiben, als was mir die Salana im Rückblick erscheint – schlicht und einfach als das irdische Paradies. Natürlich werden mich meine Kollegen aus der Theologischen Fakultät jetzt freundlich, aber bestimmt darauf hinweisen, daß der ursprünglich aus dem Altiranischen stammende Begriff „Paradies“ in den frühen Schichten des Alten Testamentes einen Baumgarten im Osten und im Neuen Testament eine kollektive wie individuelle Heilserwartung bezeichnet, aber nie eine mitteldeutsche Universitätsstadt. Ich werde dann schüchtern einwenden, daß der große spätantike spanische Kirchenschriftsteller Isidor von Sevilla in seinem Werk De differentiis verborum, das lautgleiche Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung aufzählt, von zwei Paradiesen handelt, de duplici paradiso. Eines, so sagt Isidor, ist irdisch, nämlich dort, wo die ersten Menschen körperlich ihr Leben verbrachten, das andere himmlisch, nämlich dort, wo die Seelen der Seligen, sofort nachdem sie den Körper im Tode verlassen haben, hingebracht werden und die Annahme ihrer in die himmlische Herrlichkeit gewandelten Körper erwarten . Natürlich meine ich, wenn ich „Jena Paradies“ nenne, nicht jenes eschatologische himmlische Paradies (das wäre dann wohl doch ein etwas vermessenes Lob), sondern das irdische Paradies für die Menschen des Anfangs oder des Aufbruchs – den zur Begründung einschlägigen Satz des mediävistischen Kollegen Walther zum Jubiläum der Gründung der Hohen Schule 1998 habe ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen: „Umbrüche und Aufbrüche scheinen von alters her eine Jenaer Spezialität zu sein“. „Jena Paradies“ also zunächst einmal wegen einer besonderen Bereitschaft zu Aufbrüchen, die ich aus meinen sechs Jenaer Jahren als Charakteristikum der Universität bezeugen kann und die, wie mir scheint, durchaus nicht abgenommen hat seither. Wer vor fast zwanzig Jahren aus dem Westen hergekommen ist, ist ebenso aufgebrochen wie die, die in den Umbrüchen des Jahres 1989 diese Universität umgestalteten und unter neuen Verhältnissen dann erstmals auch prägen konnten. Wer als Lehrender so aus dem Westen oder im Osten aufgebrochen war, war elementar neugierig auch auf andere Fachgebiete, wie beispielsweise die stets mit fachfremdem Publikum gefüllten Antrittsvorlesungen zeigten – unvergessen: „Butter oder Margarine?“, die Antrittsvorlesung des Lehrstuhlinhabers für Ernährungsphysiologie, die tiefe Folgen für die Ernährungsgewohnheiten mancher Universitätsangehöriger hatte. Aus diesem Paradies bin ich längst vertrieben: Zu Berliner Antrittsvorlesungen kommt in aller Regel die unmittelbare Kollegenschaft, ein universitäres Ereignis und einen Prospekt für interdisziplinär Kooperationswillige erlebt der Präsident der Humboldt-Universität höchst selten – ich hoffe, Ihnen hier in Jena sind solche paradiesischen Verhältnisse erhalten geblieben und mein eines, einziges Beispiel der lebendigen, paradiesisch lebendigen Interdisziplinarität, die ich während meiner Jahre hier dankbar erlebt habe, erinnert Sie an viele eigene, an die „Lichtgedanken“, die einem hier im engen und vertrauten Umgang mit den Kollegen der unterschiedlichsten Disziplinen in der einen einzigen philosophischen Fakultät oder wo auch immer kommen können. Natürlich muß ich unter dem Stichwort „Jena Paradies“, wenn ich es denn auf Umbrüche und Aufbrüche beziehe, auch die Studierenden erwähnen. Die kostbaren Protagonisten der Wende, die 1994, als ich hier begann, auch wieder mit der Theologie begonnen haben, nach Jahren in den Wendegremien. Sie studierten wie ausgetrocknete Schwämme, mit großer Energie und Leidenschaft, aber zugleich auch höchst selbständig und kritisch dazu. Auch aus diesem Paradies fühle ich mich vertrieben, wenn auch nicht vollständig: Jüngst hat eine Umfrage zur Studierbarkeit der neuen Studiengänge an der Humboldt-Universität gezeigt, wie stark die erste Generation der Studierenden im Bologna-Prozeß durch die handwerklichen Fehler betroffen ist, die wir bei seiner Einführung an vielen Stellen gemacht haben. Natürlich gibt es auch in Berlin kluge Studierende, aber mit den Jenaern vor vierzehn Jahren sind sie meist nicht zu vergleichen.
Einen zweiten Grund möchte ich noch erwähnen, der erklärt, warum ich meine Bemerkungen heute unter das Stichwort „Jena Paradies“ gestellt habe und nicht zurückhaltender formuliert habe – zwischen „Jena Paradies“ und „Jena – Psychiatrie“, wie es bei Gottfried Benn heißt, liegt in einem guten Malkasten ja noch der eine oder andere Farbton, die eine oder andere Nuance. Wenn Isidor von Sevilla vom irdischen Paradies sagt, daß dort die ersten Menschen körperlich ihr Leben verbrachten (oder, etwas wörtlicher: dort das Leben der ersten Menschen körperlich geführt wurde), dann denke ich bei den „ersten Menschen“ an all’ die jungen, zum Teil noch nicht sehr bekannten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, in die die Jenaer Universitätsleitung bei der Berufung hohes Vertrauen investiert hat, beispielsweise durch hohe Berufungszusagen – ich war einmal einer davon und das hat Jena für mich zum Paradies gemacht. Von „Jena Paradies“ kann man aber auch noch deswegen sprechen, weil nach meinem Eindruck hier bis heute die Regel gilt, daß in einer Universität auf bestimmte Entwicklungen von Individuen vertraut werden muß, ohne daß etwas konkret vorgeben werden kann (man spricht im unerträglichen Universitätsmanagementidiom unserer Tage von „Benchmarking“) und ohne daß die Erfüllung des Vorgegebenen abgeprüft wird und gegebenenfalls Sanktionen greifen. Wir wissen aus den Erzählungen vom Paradies, die sich in der Bibel finden, daß ein solcher schlechthinniger Schwund von Vertrauen das letzte Präludium vor der Vertreibung aus dem Paradies ist – übrigens auch dann, wenn kluge Universitätsreformer uns das unter dem Leitbegriff „Qualitätsmanagement“ als Frucht vom Baume der Erkenntnis ausgeben wollen.
Wenn man „Jena Paradies“ im Internet sucht, wird man an erster Stelle auf ein Lokal an der Hamburger Kunstmeile verwiesen. Nicht, daß Sie mich mißverstehen: Natürlich werde ich an einem Schillertag in der Aula meiner alten Universität nicht behaupten, daß „Jena Paradies“ am Klosterwall 25 in 20095 Hamburg gelegen ist. Nein, natürlich gehören „Jena Paradies“ und die Friedrich-Schiller-Universität ganz eng zusammen, wahrscheinlich nicht nur in meiner, vielleicht ein wenig verklärten Erinnerung. Nun braucht es freilich keinen spanischen Kirchenvater der Spätantike, um zu begreifen, daß zwischen irdischem und himmlischem Paradies oft genug ein breiter Graben klafft und schon ganz andere aus dem irdischen Paradies vertrieben worden sind. Die, die das Jubiläum dieser Universität so geistvoll geplant haben (und damit dem zweihundertjährigen Jubiläum der Humboldt-Universität im Jahre 2009 eine eindrucksvolle Meßlatte gesetzt haben), spielen mit dem Leitbegriff „Lichtgedanken“ auf eine Erfahrung der Differenz an, die man in Jena vermutlich genauso wie in Berlin macht: „Alles Göttliche auf Erden/ Ist ein Lichtgedanke nur“. In einer herausragenden Universität kann man ganz gewiß nicht die Lichtgedanken organisieren oder gar im Rahmen von Zielvereinbarungen bestellen („Aus den Wolken muß es fallen,/ Aus der Götter Schoß“), aber man kann Bedingungen schaffen, unter denen Lichtgedanken leichter aufblitzen können als anderswo. Ich habe einige davon genannt, die mir angesichts der Berliner Differenzerfahrungen besonders auffallen und die zu behalten, zu bewahren und auszubauen ich Ihnen hier im Jubiläumsjahr von ganzem Herzen wünsche.
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität