Begrüßung zur Ausstellung „Studieren in Trümmern“
Herr Senator, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende,
insbesondere liebe Studierende, die Sie diese Ausstellung vorbereitet
haben,
„es kömmt aber darauf an, sie zu verändern“ – bewußt oder unbewußt
haben Sie alle, die Sie diesen Senatssaal betreten haben, auch heute
nachmittag wieder einmal die Feuerbachthese passiert, die in einer
philologisch gegenüber dem Original leicht korrigierten Form die
Eingangswand des wiederaufgebauten Treppenhauses unserer Universität
ziert. Keiner wird bestreiten, daß gelegentlich die Zeit des
Interpretierens an ein Ende gekommen ist und mit Veränderungen begonnen
werden muß. Heute erinnern wir aber an eine große Veränderung die – so
meine erste These – erst noch interpretiert und verstanden
werden muß. Und die – so meine zweite These – zutiefst von
Versuchen der Interpretation eben dieser Veränderung geprägt war.
Sie wissen alle, welche Veränderung ich meine: Die Veränderung,
die in den Jahren 1945/1946 nun für den Letzten und die Letzte
offenkundig lag: Die Flammen, die man im Mai 1933 vor dem Hauptgebäude
angezündet hatte, um angeblich undeutschen Geist zu vernichten, hatten
auf das Hauptgebäude selbst übergriffen; nach den Büchern waren
Menschen verbrannt worden und selbst verbrannt im Bombenkrieg der
Stadt; im zerstörten Hauptgebäude gähnten die leeren Fensterhöhlen und
auf dem Innenhof stapelten sich die Ziegel. Eine Katastrophe nicht
allein des deutschen Staatswesens, sondern auch seiner
Bildungseinrichtungen und Universitäten war offenkundig geworden. Und
doch eröffnete am 29. Januar 1946 im Admiralspalast, drüben gegenüber
des Bahnhofs Friedrichstraße, die Universität ihren Lehr- und
Forschungsbetrieb wieder, investierte den Altphilologen Johannes Stroux
durchaus mit akademischen Pomp, mit Pedellen und Szeptern, als rector
magnificus der universitas berolinensis und beschloß den Tag am selben
Ort mit einer Opernaufführung der ausgelagerten Staatsoper.
Meine erste These, daß wir diese Veränderungen noch nicht
genügend interpretiert haben, möchte ich in den folgenden Minuten nur
sehr knapp begründen; Rüdiger vom Bruch und Christoph Jahr haben in der
schmalen, aber gehaltvollen Broschüre zu dieser Ausstellung ausführlich
dokumentiert, daß an dieser Stelle ein deutliches Forschungsdefizit
besteht und doch zugleich allerlei Versuche zur Schließung der Lücken
unserer Kenntnis unternommen.: Erst seit wenigen Jahren, so vom Bruch
und Jahr, lasse sich ein eigenständiges Forschungsfeld Universitäten
und Wissenschaften nach 1945 erkennen, „in dem systematisch … nach
Kontinuitäten und Diskontinuitäten“ gefragt wird (S. 7). Wer wie ich im
Jahre 1999 Hans-Ulrich Wehler über die Anfänge der Großväter der
Bielefelder Sozialgeschichte im Nationalsozialismus räsonieren hörte,
ahnt, daß es sozusagen Trancen der Beschäftigung mit der Vergangenheit
gibt und wir nun hoffen können, daß nach den reichlich verspäteten
Debatten um die Rolle der Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus
nun auch die Jahre nach 1945 stärker in das Bewußtsein der Forschung
treten. In der erwähnten Broschüre habe ich die Hoffnung geäußert, daß
dabei der unmittelbare Aufbruch der Jahre 1945/1946 als eigenständige
Phase wahrgenommen wird und nicht wie bisher als ein Teil der
„bleiernen Zeit“ der fünfziger Jahre faktisch untergeht und vergessen
wird. Ich werde gleich versuchen, an den Reden der eben erwähnten
Eröffnungsfeier zu zeigen, daß eine schlichte Rubrizierung dieser
Aufbrüche als beliebiger Teil der Nachkriegszeit diesen Monaten gewiß
nicht gerecht wird. Auch wenn der Aufbruch in vielfacher Hinsicht schon
wieder und immer noch belastet war, haben wir es doch mit
bemerkenswerten Versuchen der Auseinandersetzung mit einer
katastrophalen Vergangenheit zu tun, die heute noch unsere
Aufmerksamkeit verdienen, weil sie beim Verständnis gegenwärtiger
Identität unserer Universität helfen.
Historiographische Sorgfalt und methodische Schärfe ist bei der
Analyse der Jahre 1945/1946 ist dringend angesagt. Es besteht meiner
Ansicht nach nicht nur die Gefahr, die Aufbrüche der unmittelbaren
Nachkriegszeit zu stark durch die Optik der fünfziger Jahre zu
überformen und so ihre Besonderheiten zu verfehlen, sondern auch die
Schwierigkeit, die Besonderheiten einer Universität mitten in einer
Vier-Sektoren-Stadt angemessen zu beschreiben. Schließlich wird man der
Humboldt-Universität zu Berlin auch nicht gerecht, wenn man sie in eine
Reihe mit großen ausländischen Universitäten stellt, deren Entwicklung
nie von tiefgreifenden Brüchen geprägt wurde. Hier in der Mitte der
Stadt, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es vielmehr wie an
vielen Orten unseres Landes: Kontinuitäten und Diskontinuitäten sind in
kaum entwirrbarer Weise verschränkt: Wir repräsentieren – durchaus
gemeinsam mit der Freien Universität – Traditionen der alten Berliner
Universität und sind doch nicht Friedrich-Wilhelms-Universität zu
Berlin. In der 1960 veröffentlichten „Gedenkschrift der westdeutschen
Rektorenkonferenz und der freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr
des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin“ heißt
es ziemlich lapidar: „Die Friedrich-Wilhelms-Universität teilte … das
Schicksal des Deutschen Reiches. Mit dessen Zusammenbruch hörte auch
sie zu bestehen auf“ (S. IX). Und so irrlichtert seit 1946 die
unterschiedliche Semantik von „Wiedereröffnung“ und „Neueröffnung“
durch die Welt und eine nicht restlos geklärte Melange von Kontinuität
und Diskontinuität beschäftigt uns immer wieder einmal in diesem Hause
und in der ganzen Stadt, nicht nur dann, wenn es um die Frage geht,
welcher Universität im Rahmen von problematischen Rankingverfahren die
Nobelpreisträger der alten Berliner Universität zuzurechnen sind. Ich
bin fest davon überzeugt, daß diese von mir eben nicht sehr präzise als
Melange bezeichnete Mischung aus Kontinuität und Diskontinuität
ziemlich repräsentativ für viele deutsche Institutionen ist, und es uns
im Vorfeld des großen Jubiläums wohl anstünde, sie näher zu untersuchen
und präziser zu beschreiben, als dies mit meiner Kaffeehausmetaphorik
möglich ist. Überakzentuierungen von Kontinuität auf Kosten der Brüche
ist ebenso gefährlich wie das Stilisieren von Brüchen auf Kosten der
Kontinuitäten. Die große Aufgabe, die Geschichte dieser Universität
nach 1945 zu schreiben und dabei ihre unterschiedlichen Phasen
sorgfältig zu differenzieren, liegt noch vor uns und es ist den
studentischen Initiatoren der Ausstellung besonders zu danken, daß sie
hier entschlossen einen Anfang gemacht haben. Soweit Bemerkungen zu
meiner ersten These, daß wir die dramatischen Veränderungen der
Jahre 1945/1946 noch nicht genügend interpretiert haben.
Meine zweite These lautete, daß die Jahre 1945/1946 zutiefst
von Versuchen der Interpretation eben dieser Veränderung geprägt waren
und ich habe angekündigt, dies an den Reden der Wiedereröffnungsfeier
vom 29. Januar 1946 präziser nachzuweisen. Damit konzentriere ich mich
auf einen Politiker und einen Wissenschaftler, spreche also nicht über
Studierende; diese Einseitigkeit erlaube ich mir, weil die Ausstellung
der Studierenden deren Leben und Einstellungen sehr plastisch
dokumentiert, deutlich besser, als ich das hier könnte. Mir ist
durchaus auch bewußt, daß ich auf diese Weise die unmittelbaren
Nachkriegsereignisse in den Wochen und Monaten nach dem 8. Mai 1945 und
vor allem das Rektorat Eduard Spranger ausblende, obwohl Person und
Oeuvre Sprangers repräsentativ sind für eine maßgebliche Interpretation
der Veränderungen dieser Tage und eine eingehendere Beschäftigung
lohnen würden. An Sprangers Aufsatzsammlung „Berliner Geist“, die der
nach Tübingen gewechselte Kulturphilosoph und Pädagoge 1966 in der
schwäbischen Universitätsstadt publiziert, werden biographische
Hintergründe und historische Umstände dieser Interpretation vorzüglich
deutlich, selbst wenn die Rhetorik des Kalten Krieges Sprangers
Erinnerung zutiefst prägt. Man kann in diesem Buch lesen, wie Spranger,
über die Mittwochsgesellschaft mit dem Widerstand verbunden, nach dem
20. Juli 1944 durch den japanischen Botschafter aus dem Zellengefängnis
Moabit und den Verhörkellern der Prinz-Albrecht-Straße gerettet wurde,
sogleich seine Vorlesungen über Sokrates und Plato wieder aufnahm und
erst endgültig einstellte, als am 31. Januar 1945 das Hauptgebäude
vollständig zerstört wurde. Und man liest, daß er es als seine erste
„ethische und deutsche Pflicht“ empfand, die Universität vor dem
sowjetischen (Spranger schreibt: „russischen“) Einfluß zu bewahren (S.
37) und versteht schnell, warum das Rektorat, das ihm am 8. Juni 1945
kommissarisch übertragen worden war, am 12. Oktober 1945 auf den
Altphilologen Stroux überging: „Ich lege noch heute Gewicht auf die
Feststellung, daß ich entlassen worden bin, nicht, wie in den Zeitungen
stand, zurückgetreten“, schreibt Spranger und setzt seinen Nachfolger
Johannes Stroux in ein wenig freundliches Licht: „Er trug keine
Bedenken, die fragwürdige Nachfolge anzutreten“ (S. 38).
„Fremdherrschaft“ ist der Schlüsselbegriff für die Optik, mit der der
erste Nachkriegsrektor Spranger die Zeitläufte wahrnahm: 1933 verfiel
„die Hochschule, gegen die Fremdherrschaft errichtet, … der
Fremdherrschaft“ (S. 207) und ebenso 1945: Heute irritiert uns
zutiefst, daß da die französische Besatzung Napoleons in eine Linie
gestellt wird mit den russischen Truppen, die die Stadt im Mai 1945
eroberten und dadurch befreiten, wie auch die Protagonisten der
nationalsozialistischen Umgestaltung der Universität wie auch ihrer
sozialistischen Umformung als fremde Besatzungsmacht stilisiert werden,
wiewohl sie bekanntlich zu guten Teilen aus den Universitäten selbst
stammten – ich breche hier, wie angekündigt, meine Bemerkungen zu
Spranger ab, obwohl diese abschließende kritische Note ganz gewiß nicht
das letzte Wort zu diesem beeindruckenden Pädagogen und Philosophen
sein darf und auch nicht mein letztes Wort zu ihm bleiben wird. Bei
einem Vortrag in der Mittwochsgesellschaft aus dem Jahre 1940
formulierte Spranger eine Maxime, die sich (freilich in
unterschiedlicher Weise) kritisch sowohl auf die westdeutsche wie
ostdeutsche Wissenschaft nach 1945 anwenden läßt und auch noch heute
das Bedenken lohnt: „Wer politische (meint hier: politisierte, C.M.)
Wissenschaft will, will im Grunde überhaupt nicht Wissenschaft. Denn
der Wille zu Macht ist wesensmäßig etwas anderes als der Wille zur
Wahrheit.“ (Spranger, Texte für die Mittwochs-Gesellschaft 1935-1944,
München 1988, S. 29f.).
Ich gehe nun auf das Rektorat Stroux ein und auf die Reden, die zur
Eröffnungsfeier im Januar 1946 im Admiralspalast gehalten wurden. Wenn
man heute, nach sechzig Jahren, diese Reden liest, wird deutlich, daß
diese Feier in Zeiten des Umbruchs und der Klärung stattfand; sehr
unterschiedlich waren die Töne, die angeschlagen wurden und die
geistigen Haltungen, die die Redner prägten. Zuerst sprach (nach einem
musikalischen Auftakt) der Präsident der Zentralverwaltung für
Volksbildung, Paul Wandel. Wolfgang Leonhardt, Wandels Schüler in der
Kominternschule in Kuschnarenkowo, hat Wandel in seinem berühmten Buch
„Die Revolution entläßt ihre Kinder“ aus eigener Anschauung wenig
freundlich charakterisiert: „Unser Gruppenleiter und Hauptdozent war
ein hochgewachsener vierzigjähriger Mann mit leicht ergrauten Schläfen
und dunklen Augen, der mit süddeutschem Akzent sprach und sich
‚Klassner’ nannte. Klassner war der vollendete Typ des intelligenten
Stalinisten. Er besaß ein außerordentlich großes Wissen, nicht nur auf
dem Gebiet des Marxismus-Leninismus, der Geschichte der Komintern und
der KPD, sondern auch der deutschen Geschichte und Philosophie... .
Nichts vermochte seine kalte Überlegenheit zu erschüttern. Er konnte
rücksichtslos seine besten Freunde und Mitarbeiter opfern, wenn die
Führung es von ihm verlangte. Er hatte sich ständig unter Kontrolle,
und unüberlegte oder ungenaue Formulierungen wären bei ihm unmöglich
gewesen. Er wählte seine Worte präzis, und man konnte sicher sein, daß
sie mit der offiziellen Linie haargenau übereinstimmten. Infolge seiner
überdurchschnittlichen Intelligenz war er imstande, rechtzeitig die
leisesten Andeutungen einer ideologischen Schwenkung zu erkennen und
dementsprechend zu handeln. Bei einer Veränderung der Linie war er
bereit, von einem Tag auf den anderen seine Meinung zu ändern und mit
kristallklarer Logik genau das Gegenteil von dem zu vertreten, was er
am Tage vorher gesagt hatte. Er war ein ausgezeichneter Dozent und
stellte sein großes theoretisches Wissen rückhaltlos zur Verfügung, um
die Direktiven, die ihm von oben gegeben wurden, zu begründen, zu
erläutern und zu propagieren. Ich wußte damals nicht, wie sein
richtiger Name lautete, erst einige Zeit später erfuhr ich ihn: Paul
Wandel“. Liest man Wandels eröffnende Rede (die mir in einem dem Rektor
Stroux zugestellten Ausschnitt vorlag), so fällt dieser politische
Hintergrund des Redners zunächst überhaupt nicht auf. Wandel spricht
vom nationalen Zusammenbruch und bekennt sich feierlich zu einer
Theologischen Fakultät an der Berliner Universität – „wir wissen, daß
die Religionen und Kirchen im Leben der Völker eine bedeutende Rolle
gespielt haben und auch heute noch spielen, und daß eine Lücke in die
Ganzheit und Geschlossenheit unserer Wissenschaft gerissen würde,
wollte man ihre historischen und Gegenwarts-Probleme, die heute in den
Theologischen Fakultäten ihre Behandlung finden, aus unseren
Universitäten fernhalten“ (p. 36). Weiter verwendet Wandel das auch für
Spranger und Stroux charakteristische Vokabular der Weimarer Klassik,
vor allem Schillerscher Prägung und verkündet zum Neubeginn „lauter und
fester als zuvor die Idee der Humanität und Freiheit“. Er betont nicht
nur terminologisch die Kontinuität zur Weimarer Republik, wenn er
fordert, daß die Universität „wissenschaftliche und schöpferische
Menschen forme, charaktervolle, entschlossene Kämpfer für Recht,
Demokratie und Menschlichkeit“. Aber dann gibt es auch neue Töne, die
klar erkennen lassen, wohin die Richtung mindestens nach Ansicht der
Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung gehen sollte: Wandel macht
sich Forderungen der „fortschrittlichen demokratischen Kräfte von
Studenten und Professoren“ zu eigen, denen er keine Fesseln angelegt
sehen will und fordert eine „wirkliche Übereinstimmung zwischen der
Universität und den demokratischen Interessen des Volkes“. Eine solche
Übereinstimmung besteht nach Wandels Ansicht beispielsweise darin, daß
die Universität auch für die „früher besonders stark benachteiligte
Arbeiterschaft“ geöffnet wird und gleichzeitig für die
„wissenschaftlich begründete und geschichtlich längst bestätigte
Weltanschauung der modernen Arbeiterbewegung“ (S. 37). Wieder eine
Melange, diesmal aus Forderungen, die wir noch heute für vollkommen
berechtigt halten und solchen, die uns heute tief problematisch
erscheinen: Wer wollte nicht zustimmen, daß der Hochschulzugang
unabhängig vom Einkommen der Eltern möglich sein muß, wer begrüßt
nicht, daß deutlich mehr Frauen zugelassen wurden; aber wer erschrickt
auch nicht vor der Dreistigkeit, mit der hier kurz nach dem
Zusammenbruch einer Ideologie schon die nächste Ideologie als
„wissenschaftlich begründet“ empfohlen und bald der Universität
aufoktroyiert wird.
Nach Wandel, dem Berliner Oberbürgermeister und einem sowjetischen
General sprach – wie es sich für eine feierliche Investitur gehört –
auch der neue rector magnificus Johannes Stroux anläßlich der
„Auferstehung der Universität Berlin zu neuem Leben und dem Beginn
einer neuen Epoche ihrer Geschichte“ (S. 38). Zuvor war ihm die
Amtskette umgehängt worden, freilich nicht – wie es eigentlich die
Aufgabe des Altrektors gewesen wäre – von Eduard Spranger, denn der
lehrte zu dieser Zeit bereits in Tübingen. Die Ansprache des Latinisten
Stroux illustriert zwei Dinge in ganz bemerkenswerter Weise: Sie zeigt
zum einen, daß damals viele mit einem ideengeschichtlichen
Ensemble aus Weimarer Klassik, von Goethe und Schiller, und bestimmten
Reformansätzen der Geisteswissenschaften aus der Weimarer Republik die
Katastrophe verstehen, die Zeitläufte interpretieren wollten – und zwar
völlig unabhängig von ihrer politischen Couleur und basalen Ideologie;
an diesem Punkt unterscheiden sich Wandel und Stroux nur sehr mäßig.
Zum anderen dokumentiert die Rede aber leider auch, daß man
Stroux ein „großes Maß an Anpassungsfähigkeit gegenüber den
Machthabern“ alter und neuer Couleur bescheinigen muß, wie es in der
Broschüre zur Ausstellung heißt (S. 24) und in Texten der Ausstellung
weiter dokumentiert wird. Diese beiden Eindrücke von der Ansprache
möchte ich nun noch etwas an Textdetails der Ansprache illustrieren:
Zum ersten: Stroux beschwört eingangs den „tiefen Ernst“ (S.
38), in dem die Anwesenden die Feier beginnen, und fährt fort: „Aber es
ist nicht der Ernst, der aus der Trauer über schwere Erlebnisse stammt,
und nicht der Ernst, der aus der Beklemmung über die Last der vor uns
liegenden Aufgaben entsteht, es ist der tiefere Ernst, der nach einem
Worte Goethes heilig ist und dem Goethe die Kraft zuspricht, das Leben
zur Ewigkeit zu machen“. Das ist, wenn Sie dem Theologen diese scharfe
Charakterisierung nachsehen, genau die bildungsbürgerliche
Säkulartheologie, die beim Anlaß einer Rektorinvestitur seit dem
neunzehnten Jahrhundert üblich war und auch eines der einschlägigen
Zitate. Es irritiert und gibt jenseits aller Konventionalität doch
einen Blick auf Stroux, daß der frisch Investierte die vergangene
Periode des Nationalsozialismus als „eine schwarze und mit der damnatio
memoriae belegte“ bezeichnet; der erfahrene Philologe Stroux, der das
lateinische Inschriftenkorpus der Akademie leitet, muß gewußt haben,
daß der Ausdruck damnatio memoriae eben jene Form des auslöschenden
Vergessens bezeichnet, unter dem nach 1945 so viele Opfer gelitten
haben: Stroux spricht nicht einmal direkt vom Nationalsozialismus,
sondern nur von „Irrlehren“, die der Universität „als Grundlehren“
aufgezwungen worden seien (S. 40) und vertuscht damit mehr oder
weniger, daß nicht wenige an der Universität diese „Irrlehren“ ja
selbst begeistert als Grundlehren aufnahmen. Vielleicht ist es weniger
verwunderlich, daß der aus dem Elsaß stammende Stroux zu den
nationalsozialistischen Irrlehren die „des einseitigen
völkerfeindlichen Nationalismus“ rechnet; daß er sie nicht schon viel
früher, nämlich im neunzehnten Jahrhundert, aufkommen sieht, spricht
nicht für eine besonders scharfe ideengeschichtliche diagnostische
Kompetenz des Altertumswissenschaftlers. Zum zweiten ist an der
Ansprache des neuen Rektors Stroux bemerkenswert, wie sich der wendige
Altertumswissenschaftler auf die neue Ideologie einstellt. Einmal
übernimmt er direkt die einschlägige Terminologie, vielleicht auch
deswegen, weil hier ungeachtet aller Differenzen gewisse
terminologische Kontinuitäten zwischen zwei Ideologien vorliegen (ich
spreche ausdrücklich von gewissen terminologischen Kontinuitäten), die
dem Individuum die Wende leicht machen: Stroux freut sich über das
„neue Verhältnis der Universität zum Volke“ und meint, „daß die
deutschen Arbeiter und die Arbeiterparteien für die Erhaltung von
Wissenschaft und Forschung eintreten“ (S. 41). Die neue deutsche
Intelligenz soll aus „von jedem Standesdünkel freien“ Menschen bestehen
(ebd.). Aber auch hier ist ungeachtet aller Kontinuitäten natürlich
genügend Differenz: Die vom Standesdünkel befreiten Vertreter der neuen
Intelligenz sollen „zum Dienst für die Gesamtheit des demokratischen
Staatswesens … vereinigt werden“ (S. 41). Um keinen Zweifel aufkommen
zu lassen: Dies wäre vor 1945 an der Berliner Universität bei
feierlichen Inaugurationen kaum so gesagt worden und auch Stroux selbst
hätte es so nicht gesagt. Der neue Rektor stellt sich auf die neue
Ideologie aber nicht nur durch seine Terminologie, sondern auch noch
durch das eigentliche Thema seiner Ansprache ein. Er spricht über
geistige Arbeit als Wesen der Universität und profiliert diese – in
einem gedanklich etwas unklaren Übergang – als Stätte, „die der Kultur
des deutschen Volkes“ dient (S. 42). Der Latinist Stroux gibt dann
etymologische Hinweise zum Verständnis des Begriffs Kultur, nennt das
lateinische Verb colere, arbeiten, und verbindet das Substantiv
cultura mit dem griechischen Begriff paideia, ohne auf seinen
emigrierten Berliner gräzistischen Kollegen Werner Jaeger hinzuweisen,
der unter diesem Titel noch in Berlin ein heute weitgehend vergessenes
Hauptwerk humanistischer Philologie begonnen hatte. Kultur, so
bilanziert Stroux, ist „Tätigkeit und Arbeit, nicht Zustand“ und
beginnt, über antike Theorien der Arbeit sprechen. Ich spare mir
weitere Details, unter anderem auch deswegen, weil die einschlägige
Seite der Rede im Universitätsarchiv leider verloren gegangen ist, und
komme zu einem vorläufigen Schluß: Natürlich lag es angesichts eines
zerstörten Hauptgebäudes, angesichts einer völligen vorangegangenen
Katastrophe, angesichts eines Neubeginns nahe, das Stichwort „Arbeit“
in den Mittelpunkt einer solchen Ansprache zu stellen. Es entsprach
zudem auch der preußischen Tradition, nicht allzuviel zu räsonieren,
schon gar nicht zu lamentieren oder mit wuchtigen Worten anzugeben,
sondern „ein Plus zu machen“, wie der Soldatenkönig einmal formulierte.
Wer weiß das besser als ein neuer Präsident dieser Universität. Aber
wenn man dann liest, wie Stroux die Einheit des „Arbeiters der Hand“
und des „Arbeiters des Kopfes“ betont (S. 46), dann weiß man, daß ihm
eine Sensibilität, wie sie sein späterer romanistische Kollege Victor
Klemperer schon unmittelbar nach Kriegsende für die lingua tertii
imperii entwickelt hatte, abging. Mir ist natürlich auch klar, daß
ich mit solchen philologischen Beobachtungen und knappen Hinweisen auf
den Duktus der Argumentation nicht wirklich zur Aufhellung der vorhin
von mir als „Melange“ bezeichneten Verschränkung von Kontinuitäten und
Diskontinuitäten bei Stroux und überhaupt in jenen Monaten beitragen
kann. Aber mir liegt daran, Ihnen heute nachmittag wenigstens das mit
meiner Kaffehausmetaphorik angedeutete Problem als eine künftige
Aufgabe der Erforschung nicht nur der Geschichte unserer Universität
deutlich zu machen.
Eine präsidiale Begrüßung sollte – auch wenn ihr eine üppige halbe
Stunde zugemessen ist – nicht in einen historischen Vortrag ausarten;
vermutlich möchte auch kaum jemand zeithistorische Bemerkungen eines
Altkirchenhistorikers hören. Also schließe ich, in dem ich noch einmal
etwas grundsätzlicher werde: Am Ende des feierlichen Inaugurations- und
Eröffnungstages im Januar 1946 wurde – wie eingangs bemerkt – am
Ausweichspielort der Staatsoper im Admiralspalast Verdis Rigoletto
gegeben – und man fragt sich natürlich, ob die anwesenden Gäste und
Professoren das Drama, das sich in dieser Oper zwischen einem Hofnarren
und einem Grafen am Hof von Mantua abspielt, in irgendeiner Weise auf
die aktuelle Situation bezogen haben. Ich fand darüber keine Quellen
und sollte eigentlich als Historiker dort schweigen, wo die Quellen
schweigen. Aber der Präsident dieser Universität schweigt hier noch
nicht. In Verdis Oper wird einem Hofnarren übel mitgespielt. Seine
Tochter verliert am Ende einer großen Intrige das Leben und die
Politiker machen keine gute Figur in diesem Stück. Wenn wir prägende
Ereignisse der Universitätsgeschichte sorgfältig studieren –
beispielsweise im Rahmen solcher eindrücklichen studentischen
Ausstellungsprojekte – und vor allem sorgfältig interpretieren, dann
vermeiden wir, daß die Wissenschaft lediglich in die Rolle eines
Hofnarren gerät. Eines etwas belächelten Mahners der Politik, eines
Politikberaters, auf den im Grunde niemand hören will, oder aber einer
selbsternannten moralischen Instanz, deren anmaßenden
Alleinvertretungsanspruch vergangener Zeiten auch nur alle lächerlich
finden. Politische Kompetenz und politikwissenschaftliche Kompetenz
wird nicht als donum superaddittum mit der Habilitation
verliehen. In Zeiten, in denen sich alle selbst zu Leuchttürmen der
Exzellenz promovieren, steht der Universität des Mittelpunktes
Bescheidenheit gut zu Gesicht. Indem wir die Brüche unserer Geschichte
in der Mitte der Stadt, ja in der Mitte des Landes interpretieren,
arbeiten wir und tun eben dadurch das, was eine exzellente Universität
auszeichnet. Wenn Sie, Herr Senator, meine sehr verehrten Damen und
Herren, in diesen Worten nicht nur Kommentare zu den Ereignissen im
Januar 1946, sondern auch zu den jüngsten Ereignissen des Januar 2006
wahrgenommen hätten, hätten Sie mich durchaus nicht falsch verstanden.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
Prof. Dr. Christoph Markschies
Berlin, 24. Januar 2006