Rede bei der Ehrenpromotion Rüdiger Wehner
Meine lieben Herrn Dekane, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Studierende, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Frau,
lieber Herr Wehner,
wie mindestens die Wehners wissen, verstehe ich allerlei von der Wüste,
insbesondere der Wüste in der späteren Antike, aber praktisch nichts
von der Wüstenameise Cataglyphis, und wie Sie alle ahnen, konnte ich
spätestens seit dem Tag meiner Wahl allerlei über das Verhalten der
Spezies homo sapiens universitatis lernen, ohne deswegen gleich zum
Verhaltensbiologen zu werden. Für das Grußwort des designierten
Präsidenten dieser Universität kommen also rebus sic stantibus keine
klugen Bemerkungen über den Zusammenhang von Verhaltens- und
Neurobiologie in Frage, denn auch diese neueren Entwicklungen
beobachtet der Altkirchenhistoriker fasziniert und staunend, aber eben
doch leider nur als blutiger Laie. Dies alles wohl wägend, habe ich
vorgestern in Jerusalem beschlossen, Ihnen allen im Rahmen meines
Grußwortes zunächst eine Geschichte aus Jerusalem erzählen. Sie handelt
von dem großen jüdischen Gelehrten Gerschom Scholem, der 1897 als
Gerhard Scholem in dieser Stadt geboren wurde und an unserer
Universität Mathematik, Philosophie und semitische Sprachen studierte,
bevor er nach der Emigration im Jahre 1923 zu einer der prägenden
Gestalten einer anderen HU aufstieg, der Hebräischen Universität in
Jerusalem. Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, spielt im
Jahre 1967, genauer im Juni. Nach der Eroberung der Jerusalemer
Altstadt wurde den jüdischen Einwohnern der Neustadt erstmals erlaubt,
die Stadtviertel zu besuchen, deren Betreten ihnen seit 1948 verwehrt
war. Scholem bat darum, den Tempelberg besuchen zu dürfen und wurde,
damals immerhin schon siebzig Jahre alt, in ein kleines tschechisches
Auto gesetzt, auf dem Rücksitz eine junge Studentin, der mir die
Geschichte erzählt hat. Das Auto hielt etwas entfernt, man stieg
gemeinsam auf den Tempelberg, den haram as-scharif der Muslime. Scholem
steuerte ebenso zielstrebig wie schweigend den gepflasterten Platz
zwischen dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee an und blieb an dieser
Stelle knapp zehn Minuten schweigend stehen. Danach wendete er sich an
seine Begleitung, sagte: „Ich habe gesehen, was ich sehen wollte, wir
können gehen“, drehte sich um und verließ das steinerne Plateau hoch
über dem Gewirr der Gassen der Altstadt, um es bis zu seinem Tod im
Jahre 1982 nie wieder zu betreten.
Warum erzähle ich diese Geschichte? Natürlich nicht deswegen, weil
Scholem zu den ersten Gästen des Berliner Wissenschaftskollegs nach
dessen Eröffnung zu Beginn der achtziger Jahre gehörte und Rüdiger
Wehner als naturwissenschaftlicher permanent fellow für die große
Reputation dieses geistigen Tauschplatzes unter den
Naturwissenschaftlern einsteht. Nein, ich habe diese Geschichte
erzählt, weil ich in den sieben Jahren, die wir uns jetzt kennen,
Rüdiger Wehner exakt so erlebt habe, wie Scholem in der Geschichte aus
dem Jahre 1967 agiert. Ich habe auch Wehner als einen sensiblen und
aufmerksamen Beobachter erlebt, der nicht sofort zu reden beginnt – wie
wir Geisteswissenschaftler das vielleicht zu oft tun –, sondern
schweigt und genau hinsieht. Ich habe oft davon profitiert, daß Wehner
– wenn er dann genug beobachtet hat – mit sehr knappen, aber sehr
präzisen Worten formuliert, was gesagt werden muß. Beispielsweise sagt,
ob eine Sache wissenschaftlich interessant ist und was daran
interessant ist oder ob man es besser lassen sollte. Oder erzählt, was
die wissenschaftliche Pointe eines Bewerbers ist und es so erzählt, daß
es ein armer Geisteswissenschaftler verstehen kann und im Grunde sofort
mehr hören möchte. Aber nicht zu hören bekommt, weil Wehner wenn er
redet, kein Wort zuviel redet, eben wie Scholem auf dem Haram.
Solche naturwissenschaftliche Knappheit und Präzision, wie man sie bei
Rüdiger Wehner erleben kann, begeistern mich, sind ein Vorbild,
vielleicht auch gerade für uns manchmal allzu opulente
Geisteswissenschaftler. Und deswegen ist es recht von der
mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät I dieser Universität, daß
sie Wehner mit der Würde eines Ehrendoktors auszeichnet – dann sind Sie
nämlich, lieber Herr Wehner, ein Mitglied dieser alma mater
Berolinensis und wir können dann zuversichtlich hoffen, daß wir immer
wieder von Ihnen lernen können, nicht nur über Wüstenameisen, sondern
auch darüber, wie wir uns in den mancherlei, nicht nur finanziellen
Wüsten dieser Stadt verhalten müssen, um optimal überleben zu können.
Ich freue mich für Sie, mit Ihnen, der Fakultät und der ganzen
Universität.
Prof. Dr. Christoph Markschies
Berlin, 9. Dezember 2005