Humboldt-Universität zu Berlin

Einladung zum Berliner Wissenschaftsjahr

Rede des Präsidenten der Humboldt-Universität zu Berlin vom 22. Januar 2010

Es war einmal - so, lieber Herr Wowereit, lieber Herr Zöllner, meine lieben Kolleginnen und Kollegen aus diversen Präsidenten- und Direktorenämtern, so könnte ich beginnen. Und meine mit jenem "es war einmal" natürlich nicht Gottfried Wilhelm Leibniz, Günter Stocks Vorgänger in der über dreihundertjährigen Akademie, der so ungeheuer kühne wissenschaftliche und institutionelle Synthesen denken wie bilden konnte und doch zugleich so ungeheuer lebenspraktisch dachte: "So oft ich etwas Neues lerne, so überlege ich sogleich, ob nicht etwas für das Leben daraus gelernt werden könne" - Lebenswissenschaften in Berlin, im Zentrum der Berliner Wissenschaft, schon vor dreihundert Jahren. Nein, ich meine mit jenem "es war einmal" auch nicht Rudolf Virchow, der ganz ähnlich wie Karl Max Einhäupl nicht nur wissenschaftlich forschte und Forschung organisierte, sondern auch drei kommunale Krankenhäuser auf die Beine stellte, Friedrichshain, Moabit und das Krankenhaus am Urban: Das Thema von drei Standorten ist auch schon deutlich älter als die deutsche Wiedervereinigung. Natürlich meine ich mit dem "es war einmal" auch nicht die Tatsache, daß in dieser Stadt vor hundert Jahren eine einzige Person zur selben Zeit Ordinarius für antikes Christentum an der Universität, Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek und Präsident der heutigen Max-Planck-Gesellschaft war, mithin Barbara Schneider Kempf, Peter Gruss und ich einen gemeinsamen Vorgänger haben: Das oft beklagte Problem einer "Versäulung" des deutschen Wissenschaftssystems mag älter sein als das Wissenschaftssystem der alten Bundesrepublik, aber unser gemeinsamer Vorgänger Adolf von Harnacks demonstriert, daß man es lösen kann und dazu nicht im angeblich garstigen breiten Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften versinken muß. Und, wenn ich meine Einladung mit den Worten "es war einmal" beginne, dann meine ich auch nicht die hoffnungsfrohen Aufbrüche von Berliner Universitätsgründungen, weder die Gründung von 1810, die wir gern zu plakativen Formeln verkürzen, obwohl man damals mehr und anderes wollte als nur eine abstrakte "Einheit von Lehre und Forschung" mit neun Stunden Lehrverpflichtung; und ich meine auch nicht die Gründung von 1949, als man eine freie, übrigens auch hierarchiefreiere Universität im Westteil der Stadt aus dem Boden stampfte und alle Formen von Diktatur und Gewalt fernhalten wollte - Universitätsreform in Berlin, heute in Zeiten eines - vorsichtig gesagt - noch nicht restlos gelungenen Bologna-Prozesses mindestens ebenso aktuell wie damals.

Nein, alle diese höchst gegenwärtigen Vergangenheiten meine ich natürlich nicht, meine Damen und Herren, wenn ich beginne: "Es war einmal". Nein, ich spiele mit diesen Worten auf eine der vielen Besprechungen zweier Mediziner an, eines bereits Genannten und eines weiteren, dessen Name unbedingt genannt werden muß: Detlev Ganten - diese beiden Mediziner saßen also mit einem an Medizin mindestens leidenschaftlich interessierten Theologen irgendwann vor rund drei Jahren zusammen und überlegten, wie die herausragende Wissenschaft dieser Stadt, Lebenswissenschaft in einem ganz grundlegenden Leibnizschen Sinne, besser sichtbar gemacht werden könne hier in dieser Stadt und weit darüber hinaus. Und grübelten, wie diese Stadt als sehr besondere Wissenslandschaft, als ein großes Exzellenznetzwerk sichtbarer gemacht werden kann. Und die drei waren sich damals sehr schnell einig, daß es dieser Sichtbarkeit herausragender Berliner Wissenschaft durchaus abträglich sein würde, wenn die Humboldt-Universität für sich allein den zweihundertsten Jahrestag ihrer Gründung, die Technische Universität für sich allein das hundertjährige Jubiläum ihres von Krieg und Nachkrieg gezeichneten Hauptgebäudes und die Freie Universität für sich allein ein Jubiläum irgendwo zwischen zweihundert und sechzig feiern würde - viel zu oft, meine Damen und Herren, geben wir in der Stadt Anlaß dazu, daß man unsere Streitereien in die Blätter und Gazetten hebt, viel zu selten demonstrieren wir, daß es schon vor zweihundert Jahren Universität nur aufgrund der Consodalen und Sammlungen der Akademie, aufgrund der Kollegen der Charité, zusammen mit den Büchern der königlichen Bibliothek gab und sich daran bis auf den heutigen Tag nichts, aber auch gar nichts geändert hat, auch wenn die Zahl der beteiligten Institutionen geringfügig zugenommen hat. Das, so dachten wir damals, kann man ruhig einmal feiern. Ich verzichte, unter dem Leitwort "es war einmal" die Mühen der Ebene zu schildern, die die heitere Runde der Proponenten des Wissenschaftsjahres von dem heutigen Festakt und den vielen anderen Ereignissen eines an Ereignissen reichen Wissenschaftsjahres 2010 trennte - denn, meine Damen und Herren, wir wünschen uns doch nichts sehnlicher, als daß wir diesem Chor von "Ist kein Geld" und "Haben keine Lust auf Zusammenarbeit" endlich einmal entgegenrufen dürfen: "Es war einmal" und zwar für immer.

Wirklich für immer Schluß mit "es war einmal"? Wer die Berliner Wissenschaftslandschaft nicht kennt - und es soll selbst in Berlin noch Unkundige geben, jedenfalls bis zum Ende dieses Jubiläumsjahres -, möchte vielleicht gelegentlich in Betrübnis fallen, wenn von den Granden der Vergangenheit die Rede ist, von dem Universalgenie Leibniz und den Versuchen, in gänzlich anderer Form diese Synthesen und Totalitäten zu erneuern: Alexander von Humboldt, Rudolf Virchow, Albert Einstein … in Betrübnis verfallen, weil uns von diesen paradiesischen Zeiten der schwindelerregende Abgrund von Terror und Gewalt trennt. Muß man Berlins Wissenschaftsgeschichte nicht als Dekadenzgeschichte modellieren? Ach, meine Damen und Herren, lieber nicht, auch wenn es so bequem wäre. Denn was heißt denn beispielsweise schon: Paradiesische Zeiten? 1810 gab es keine Tische und Bänke im Prinz-Heinrich-Palais Unter den Linden und übrigens auch keine Frauen (was schwerer wiegt). Auf die heere Gründung folgten Demagogenverfolgung, Karlsbader Beschlüsse und so weiter und so fort. Und sollten wir heute wirklich noch von den großen Synthesen und Totalitätsphantasien unserer Vorväter träumen? Haben sie doch schon im neunzehnten Jahrhundert ihre Kritiker unter den experimentellen Naturwissenschaftlern und quellenorientierten Geisteswissenschaftlern gefunden. Und das gilt heute doch erst recht: "Mind and Brain" 2010 ist ja etwas deutlich anderes als Geist und Natur 1810. Wir sind nicht geschickt und auch nicht berufen, zu entscheiden, wo der Fortschritt waltet und wo der Rückschritt dominiert. Wir sind vielmehr aufgerufen, das Unsere dazu zu tun, damit die putzmunteren, herausragenden Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unserer Tage die Arbeitsbedingungen finden, die sie brauchen und die Kooperationsmöglichkeiten, die ihre Forschung wie Lehre weiter befördern. Da gibt es noch allerlei zu tun, trotz Einsteinstiftung und trotz der vielen, heiteren Kooperationen insbesondere mit den Instituten der Max-Planck-Gesellschaft, lieber Herr Gruss, aber selbstverständlich auch den Einrichtungen von Helmholtz und Leibniz, liebe Herren Mlynek und Rietschel, ich weiß, wovon ich spreche.

Heute und im kommenden Jahr wird uns manches leichter fallen, denn unter die mitunter anstrengende, mitunter aber auch ungeheuer schöne Aufgabe, Wissenschaft in Berlin zu ermöglichen, Kooperationen zu organisieren und die herausragenden Kolleginnen und Kollegen zu fördern, mischt sich die Gelegenheit, einfach nur zu feiern. Fast ein ganzes Jahr lang, im Süden, im Westen, im Osten, auf den Plätzen, in den Museen und so weiter und so fort. Mit einer großen Ausstellung im Martin-Gropius-Bau im September, aber auch mit vielen kleinen Veranstaltungen - keine Sorge, ich rezitiere nicht das ganze Programm. Einladen heißt ja auch nur: neugierig machen, neugierig machen auf die Gelegenheit, die schönsten Seiten von Berlins Wissenschaft kennenzulernen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß wir in diesem Fall sogar einmal den großen Leibniz korrigieren dürfen. "So oft ich etwas Neues lerne", in diesem Jubiläumsjahr 2010, so überlege ich sogleich, was für das Leben daraus gelernt werden könne", was, verehrter Herr Wowereit, meine Damen und Herren, und nicht "ob". Denn für das Leben zu lernen, über das Leben zu lernen ist in der Berliner Wissenschaft allemal möglich, wie uns am Beispiel von Nikolaus Rajewsky und Vera Beyer gleich noch einmal eindrücklich demonstriert werden wird. Für das Leben zu lernen, über das Leben zu lernen ist folglich auch bestens in den Veranstaltungen dieses Jubiläumsjahres möglich, zu dem ich sie alle namens der Jubilare und ihrer Partner, der genannten und der noch nicht genannten, von ganzem Herzen einlade.


Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität

Kontakt

Abteilung Kommunikation, Marketing und Veranstaltungsmanagement (VIII)

Online-Redaktion

E-Mail: hu-online@hu-berlin.de