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Situierte Modellierung: Leitfaden für eine reflektiertere Nutzung und Entwicklung von Computermodellen

HU-Forschende plädieren für eine Herangehensweise, die Selbstreflexion zum Teil der Wissensproduktion macht und auf heterogene Arbeitsgruppen setzt

Die bekanntesten Computermodelle sind heute Klimamodelle. Sie liefern Vorhersagen über mögliche Entwicklungen unseres Klimas und dienen als Grundlage für politische Entscheidungen. Was häufig übersehen wird: Computermodelle selbst sind das Ergebnis von Entscheidungen, die von Menschen getroffen wurden.

Die Anthropologin Anja Klein, Doktorandin am Integrativen Forschungsinstitut zu Transformationen von Mensch-Umwelt-Systemen (IRI THESys) und am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) hat gemeinsam mit Kolleg*innen von der HU, vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und vom Stockholm Resilience Centre einen Ansatz für Modellierungen entwickelt, der den Kontext ihrer Entstehung in den Mittelpunkt stellt. Eine solche situierte Modellierung berücksichtigt, welche Personen im Arbeitsprozess welche Entscheidungen auf Basis welcher Vorannahmen, Werte und Gefühle treffen und wie Modelle dadurch beeinflusst werden. Ein vom Wissenschaftler*innen-Team erarbeiteter Leitfaden soll sowohl Modellierer*innen als auch Wissenschaftler*innen, die mithilfe von Modellen forschen, bei ihrer Arbeit unterstützen.

Prinzipien für die situierte Modellierung: geschulter Blick und heterogene Arbeitsgruppen

„In einem Modell stecken unendlich viele Entscheidungen, die im Prozess der Modellierung quasi ständig getroffen werden und auch getroffen werden müssen“, sagt Anja Klein. „Das fängt bei der Frage an, ob man ein bestehendes Modell weiterentwickelt oder ein neues aufbaut. Es geht weiter mit der Frage, welche Personen und Institutionen Teil des Prozesses sind, mit welcher Software gearbeitet und welche mathematischen Gleichungen oder Programmiersprachen genutzt werden. Welche Auswirkungen dies auf das Modellergebnis hat, wird bislang nicht systematisch reflektiert.“

Anja Klein und ihre Co-Autorinnen schlagen daher vier Leitprinzipien für die situierte Arbeit mit und an Modellen vor. Mit den ersten beiden Prinzipien wollen sie unter anderem für Machtbeziehungen in der Forschung und in der Arbeit mit Modellen und Simulationen sensibilisieren. Für ausgewogenere Forschungsergebnisse raten sie in Prinzip 3 dazu, Modelle in heterogenen Arbeitsgruppen zu entwickeln. „Modelle profitieren ungemein davon, wenn sie verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, Nationalitäten, Weltanschauungen und Methoden berücksichtigen und nicht auf einer einzelnen Subjektposition beruhen“, betont die Anthropologin. Heterogenität könne neben der Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven beispielsweise auch durch das Programmieren eines Modells mit einer anderen Programmiersprache, als man es normalerweise gewohnt ist, erzielt werden. In einem vierten Punkt plädieren die Autor*innen dafür, Differenzen und Widersprüche in Modellen, die beispielsweise dadurch entstehen, dass Daten oder Skalen aus unterschiedlichen Disziplinen kombiniert werden, auszuhalten und produktiv zu nutzen. „Das Besondere an der situierten Modellierung ist, dass nicht geglättet wird. Ethische Fragen werden nicht wegmodelliert. Stattdessen sind die Forschenden eingeladen, daraus zu lernen.“ Ganz konkret kann das bedeuten, einem Modell alternative Repräsentationsformen wie Grafiken oder reflektierende Notizen und Dokumentationen über getroffene Entscheidungen an die Seite zu stellen.

Leitfaden geht weit über bisherige partizipative Ansätze hinaus

Der Leitfaden geht mit seiner Ausrichtung am Konzept des situierten Wissens weit über bestehende, partizipative Ansätze des Modellierens hinaus und richtet sich sowohl an die Modellierer*innen selbst als auch an Wissenschaftler*innen, die mit Modellierer*innen interdisziplinär zusammenarbeiten. Modellierer*innen macht er Erkenntnisse aus der sozialwissenschaftlichen Technikforschung zugänglich; für Wissenschaftler*innen, die Modelle für ihre Forschung nutzen, öffnen die Prinzipien den Blick auf ihren Entstehungsprozess, schaffen Transparenz und helfen dadurch, die Funktionsweise von Modellen besser zu verstehen.

Konzept des situierten Wissens erstmals auf Modellierung übertragen 

Der Begriff des situierten Wissens geht zurück auf die feministische Wissenschafts- und Technikforscherin Donna Haraway, mit dem sie die klare Grenzziehung zwischen „Subjektivität“ und „Objektivität“ in Frage stellt. Übertragen auf die Modellierung wurde er erstmals in Diskussionen am IRI THESys.  Empirische Grundlagen für den neuen Ansatz lieferten die ethnographischen Arbeiten von Anja Klein, Krystin Unverzagt und Dr. Rossella Alba. Sie erforschen, wie wissenschaftliche Modelle in der Nachhaltigkeitsforschung entstehen und wie sie das Verhältnis von Menschen und Umwelt abbilden. Die Spannbreite reicht von Erdsystemmodellen, die künftige Klimaentwicklungen berechnen, bis hin zu hydrologischen Modellen, die beispielsweise Flüsse oder Seen in den Blick nehmen. Darüber hinaus sind die Erfahrungen der anderen Co-Autor*innen mit der Modellierung in den Ansatz mit eingeflossen.

Weitere Informationen

Graphical abstract: Klein, Alba, Unverzagt 

Publikation: Klein, Anja; Unverzagt, Krystin; Alba, Rossella; Donges, Jonathan F.; Hertz, Tilman; Krueger, Tobias, Lindkvist, Emilie; Martin, Romina; Niewöhner, Jörg; Prawitz, Hannah; Schlüter, Maja; Schwarz, Luana; Wijermans, Nanda (forthcoming): From Situated Knowledges to Situated Modelling: A Relational Framework for Simulation Modelling. In: Ecosystems and People.

Kontakt

Anja Klein
IRI THESys / Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin
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