
Gründung der Universität
Die „Universität zu Berlin“, unbestritten weltweit prominent, von außen und innen zugleich kritisiert und gerühmt, hat ihre eigene Geschichte. Im Wintersemester 1810 eröffnet, ab 1828 „Königliche Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin“, seit 1949 „Humboldt-Universität zu Berlin“ (HU) genannt, repräsentiert sie, einerseits, in Lehre und Forschung die Praxis einer der um 1800 gegründeten modernen Universitäten. Ihre Geschichte belegt andererseits, dass der Name „Humboldt“ für eine Universität Privileg und Last zugleich bedeutet.
Das beginnt mit der Gründung: Wilhelm von Humboldt gelingt es 1810, endlich auch in Berlin eine Universität zu begründen – trotz der politischen Krise, in der sich Preußen befindet, auch gegen starke Widerstände in der preußischen Regierung, die zum Beispiel die angestrebte finanzielle Autonomie der Universität ablehnt, und obwohl eine große Stadt als ungeeignet für Universitäten gilt. Humboldt setzt die Gründung dennoch durch, in einer Gestalt, in der die Tradition der europäischen Universität – unter anderem die Fakultätsgliederung oder die Regierung durch Professoren, Rektor und Senat – mit zeitgenössischen Reformideen wie der Geltung des Forschungsimperativs, der Einheit von Forschung und Lehre sowie der Autonomie der wissenschaftlichen Arbeit zu einer spannungsvollen Einheit verbunden ist.
Das moderne Orginal – mother of all research universities
So entsteht eine Alma Mater, die bis heute als „mother of all research universities“ international bekannt ist. Bald ist sie die größte deutsche Universität, mit 8.000 Studenten schon 1914, seit 1908 in Studium und Forschung auch für Frauen offen. Nach 1900 erweitert sich die Universität in die Stadt hinein, und die Charité findet zu ihrer neuen Größe, auch dank des Wirkens von Ministerialdirektor Friedrich Althoff.
„Modell Humboldt“: Mythos und Realität
Diese Gründung wird im 20. Jahrhundert zum „Modell Humboldt“ überhöht, indem man ihr Strukturen und Wirkungen zuschreibt, die für Berlin gar nicht zutreffen. Humboldt hat nämlich, anders, als es sein „Mythos“ sagt, die Universität nicht als zweckfreie Einrichtung begründet, fern von Staat und Gesellschaft, akademischen Berufen und ökonomischer Bedeutung, autonom in allen Dimensionen. Vielmehr pries er schon dem König ihren Nutzen für Preußens Ruhm und ökonomisches Wohlergehen, setzte strikte Prüfungen durch, um den Staat vor mittelmäßigen Qualifikationen zu schützen, und behielt etwa das Berufungsrecht dem Staat vor, weil er skeptisch war gegenüber dem Eigeninteresse der Professoren. Zudem suchte die Universität, schon früh und dann kontinuierlich, erfolgreich die Verbindung zur Kultur der Stadt und zur großen Industrie. Auch die internationale Wirkung, nie als Kopie, immer lokal überformt, kann man eher für das deutsche Modell der Universität behaupten als exklusiv für das „Humboldt’sche“. Aber wie differenziert die Wirkung auch war, der Forschungsimperativ setzte sich durch, ebenso die eindeutige Unterscheidung von Fach(hoch)schulen und Universitäten oder die Einbindung der Naturwissenschaften. Mit der Praxis ihrer Disziplinen wird die Berliner Universität wirklich zum Modell.

Die Geschichte der Humboldt-Universität in Bildern
Im Wintersemester 1810 eröffnet, ab 1828 „Königliche Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin“, seit 1949 „Humboldt-Universität zu Berlin“ genannt.
Berühmte Gelehrte – Pioniere der Disziplinen
Das manifestiert sich in Personen und Strukturen zugleich. Es sind berühmte Gelehrte, die 1810 nach Berlin berufen oder seither hier tätig werden und das moderne Selbstverständnis vieler Disziplinen überhaupt erst begründen. Das gilt für Schleiermacher in der Theologie, Reil für die Medizin, Savigny für die Rechtswissenschaft, Fichte, dann Hegel in der Philosophie, für Thaer und die Landwirtschaftswissenschaft – denn auch die gehört zur Gründung –, wie die Gelehrten von Wolf bis Böckh, von Niebuhr bis Ranke, mit denen sich die philologischen und historischen Disziplinen in der Philosophischen Fakultät neu erfinden.
Forschung als Veränderungsmotor
Forschung verändert auch die alten, „oberen“ Fakultäten, vor allem in der Medizin. Das Labor wird, nicht erst mit Virchow, zum Ort revolutionärer Veränderungen in der Forschung über Mensch und Natur. Theorie und Methode der Naturwissenschaften gewinnen zum Beispiel mit Helmholtz eine neue Gestalt; Biologie, Chemie und Technologie verbinden sich schon vor 1900 zu einer zukunftsweisenden Praxis der Naturwissenschaften.
Lange bevor Nobelpreise verliehen werden und Berlins Ruhm weiter mehren, ist die Universität eine international sichtbare Forschungsuniversität. Einer ihrer prominentesten Historiker, der liberale Theodor Mommsen, 1888 scharfer Opponent gegen die antisemitischen Ausfälle seines Kollegen Treitschke, erhält 1902 den Nobelpreis für Literatur.
Die Realisierung des Forschungsimperativs
Für die Praxis der Disziplinen sind aber nicht allein große Gelehrte signifikant, sondern auch Strukturen und Normen: Mit scharfen Gütekriterien wird in Berlin sehr früh das an anderen Universitäten noch bis weit nach 1850 höchst laxe Promotionswesen verbessert. Bei Berufungen zählen schon 1810 Forschungsleistungen und Publikationen, und der Wettbewerb wird so stark, dass Berlin erst für reife Gelehrte erreichbar wird und bald höchstes Prestige in der Rangordnung der deutschen Universitäten gewinnt.
Modernisiert werden die Disziplinen auch durch die Einführung der Habilitation, die spezifische fachliche Leistungen fordert und damit die Ausdifferenzierung der Fächer in Gang setzt, nicht nur in der Medizin, aber hier besonders folgenreich. Viele Spezialisierungen in der klinischen Praxis verdanken sich der Arbeit zumal jüdischer Privatdozenten, die zwar nicht Ordinarien werden, aber erfolgreich arbeiten können – jedenfalls bis zu den von den Nazis erzwungenen Entlassungen 1933, von denen sie besonders stark betroffen sind.
Nach 1933 verändert sich auch die institutionelle Struktur der Universität. Die Hochschulen für Landwirtschaft und Veterinärmedizin werden als eigene Fakultät integriert, die Philosophische Fakultät wird geteilt, die Naturwissenschaften verselbstständigen sich. Schließlich wird eine „Auslandshochschule“ gegründet, als Ausdruck der nationalsozialistischen Indienstnahme der Universität, die sie auch selbst intensiv gesucht hat.
Universität und Staat, Anpassung und Selbstbehauptung
Spätestens jetzt, ab 1933, wird die politische Geschichte der Berliner Universität auch in ihren höchst problematischen Traditionen sichtbar. Die Bindung an den Staat selbst ist nicht neu. Humboldt, vor allem aber Fichte, der erste gewählte Rektor, definierten ihr Selbstverständnis aus dem antifranzösischen Pathos der Befreiungskriege heraus. Im Kaiserreich erhob der Biologe du Bois-Reymond die Professoren der Universität zum „Leibregiment der Hohenzollern“, durchaus zu Recht, denn ihre Mitglieder waren mehrheitlich kulturprotestantisch, national und monarchisch orientiert. Nach 1918 wurde die junge Demokratie bei den meisten Professoren und Studierenden als Bedrohung interpretiert und abgelehnt. Aber im gesamten 19. Jahrhundert war diese politische Verortung immer an die klare Unterscheidung von politischer und akademischer Freiheit gekoppelt. Deshalb votierte bei der sogenannten „Demagogenverfolgung“ seit 1818/19 etwa Schleiermacher scharf gegen alle Interventionen, mit denen die akademische Freiheit eingeschränkt wurde. Ein Philosoph wie Friedrich Paulsen verteidigte das autonome Recht zur Rekrutierung von Privatdozenten gegen Ende des Jahrhunderts erneut, als der König zu verhindern suchte, dass der Sozialist und Physiker Leo Arons Universitätsmitglied werden konnte. Wilhelm II. musste 1898 eigens die „Lex Arons“ erlassen, weil die Universität seinem Willen nicht folgte.
Nationalsozialismus
Diesen Mut vor den Regierenden und diese Solidarität mit ihren Mitgliedern hat die Universität 1933 nicht gezeigt. Im Gegenteil, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nahmen Professoren und universitäre Gremien die Entlassung jüdischer Gelehrter kritiklos hin, ja unterstützten sie sogar. Die Studenten, schon seit 1930 mehrheitlich nah am Nationalsozialistischen Studentenbund, inszenierten zusammen mit der SA und dem NS-Pädagogen Alfred Baeumler die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933, auf dem Opernplatz vor der Universität. Ein Jurist, Carl Schmitt, verteidigte die Ermordung der SA-Führer – „Der Führer ist das Recht“ –, Mediziner wirkten an den Verbrechen der Euthanasie mit, Agrarwissenschaftler lieferten Argumente für die Eroberungskriege im Osten Europas. Zu den aktiven Widerständlern gehörten nur wenige Mitglieder der Universität.

DDR-Zeit
Nach 1945 musste die Universität ihren Platz zwischen Besatzungsmacht und SED-Herrschaft, einer kaum energisch praktizierten Entnazifizierung und der Wiedereröffnung erst finden. Das war auch politisch ein Problem, wie der Protest von Berliner Studierenden gegen den erneuten Zugriff auf die Universität und die von ihnen forcierte Gründung der Freien Universitätam deutlichsten dokumentieren.
Trotz dieser Konflikte im Namen der Brüder Humboldt existierte die HU als Hauptstadtuniversität der DDR von 1949 bis zur Selbsterneuerung seit 1989 in einer komplexen Mischung aus freiwilliger Unterwerfung und dem von Einzelnen weiterhin gesuchten Imperativ einer freien Forschung. Die Strukturen von Universitäten im Sozialismus – in der Gleichzeitigkeit von Sektionsgliederung und Fakultäten, SED-Regime und Stasipräsenz, Erziehungsambition gegenüber den Studierenden und Kontrolle der Kommunikation aller – waren mit der Humboldt-Tradition nur dadurch vereinbar, dass Wilhelm und Alexander im sozialistischen Geist und als Vertreter eines „kämpferischen Humanismus“ im Zeichen des Ost-West-Konflikts radikal umgedeutet wurden.
Neuanfang in der Tradition von Reform-Ambition und Exzellenzanspruch
1990 fand diese Situation ein Ende. Von innen durch Studierende und Lehrende angestoßen, gelangte die Universität aber erst in längeren, konfliktreichen Prozessen mit dem Land Berlin, zugleich intern in den neuen Gremien und mit neu berufenen Akteur*innen zu ihrer eigenen Form. In der kritischen Prüfung von Personal und Strukturen neu abgestützt, wurde sie im Namen ihrer innovativen Tradition und der Liberalität, die sich mit den Brüdern Humboldt verbindet, in den 1990er Jahren neu gestaltet, in Forschung und Lehre disziplinär basiert, offen für Interdisziplinarität. Die Freiheit von Forschung und Lehre wurde wieder ins Recht gesetzt, das Verhältnis zum Staat in vertraglichen Regelungen auch ökonomisch stabilisiert, mit der Präsidialverfassung die Handlungs- und Innovationsfähigkeit der Universität gesichert, alle Mitglieder der Universität an ihrer Selbstverwaltung beteiligt, ein Selbstbild im Geiste der legitimen Traditionen beschlossen. Der Erfolg in der Exzellenzinitiative, in der Losung „Bildung durch Wissenschaft“ humboldtianisch symbolisiert, zeigt seit 2012 weltweit, dass es erneut die Praxis der Disziplinen, der Lehrenden wie der Studierenden ist, in der die „Universität zu Berlin“ ihre wirkliche Stärke zeigt.
// Text: Prof. i. R. Dr. Dr. h.c. Heinz-Elmar Tenorth
































