„Biologische Materialien sind oder waren zumindest Lebewesen – und Leben bedeutet Aktivität“

„Re-Enactment“ mit lebenden Bakterien in einer großen
Petrischale: Visualisierung der Interaktionen von Bakterien
und den Schoten einer Pflanze, die bei der Schlammfärbung
von Textilien von Bedeutung sind. (Foto: José I. Hernández
Lobato und Regine Hengge/HU)
Regine Hengge ist Professorin für Mikrobiologie und forscht seit sechs Jahren gemeinsam mit Geistes- und Sozialwissenschafter*innen, Künstler*innen und Gestalter*innen am Exzellenzcluster „Matters of Activity“. Die am 16. Mai 2025 eröffnete Ausstellung „Fermenting Textiles“ im Art Laboratory Berlin, die die Ergebnisse ihrer Forschung zu traditionellen Färbetechniken in Afrika zeigt, ist der Anlass mit ihr über das Konzept aktiver Materialien und ihrem Nutzen zu sprechen sowie darüber, was naturwissenschaftliche Forschung von künstlerischen Herangehensweisen lernen kann.
Seit dem 10. April läuft das __matter Festival des Exzellenzclusters „Matters of Activity“ mit Ausstellungen, Workshops und anderen öffentlichen Veranstaltungen. Besucher*innen sind eingeladen, sich mit Stoff und Materie zu beschäftigen. Es geht um einen besonderen Blick auf die ihnen innewohnenden Gestaltungskräfte. Was genau macht diesen Blick aus – auch im Hinblick auf Ihre mikrobiologische Forschung?
Regine Hengge: Zunächst einmal ist das eine Grundposition bei uns im Cluster, wie wir Materie sehen. Die seit mehreren Jahrhunderten hier im Westen übliche Art Auffassung besteht darin, dass Materialien etwas Passives sind, die man aktiv gestalten kann. Das heißt, die aktive Kraft kommt vom Menschen: das Planen, das Arbeiten mit dem Material. Material selbst als passiv zu sehen, ist insbesondere dadurch möglich geworden, dass wir fossile Energie entdeckt haben, die es uns möglich macht, massiv nichtorganische, tatsächlich passive Materialien aus der Erdkruste zu extrahieren, um dann Glas, Beton oder auch Kunststoffe herzustellen.
Auf der anderen Seite gibt es eher traditionelle Materialien, nämlich organische, gewachsene Materialien wie beispielsweise Holz. Diese Materialien sind sehr komplex strukturiert, so dass sie auf Feuchtigkeit oder Temperatur reagieren können. Ein Beispiel sind Samenkapseln, die sich öffnen oder schließen. Sie zeigen also Aktivitäten. Die klassische Herangehensweise ist, dass man diese Aktivitäten ruhigstellt, damit man diese Materialien formen kann, wie man möchte. Und wir im Cluster sagen jetzt, dass wir gerade diese Materialaktivitäten nützen sollten, weil das auch ein nachhaltigerer Umgang mit Materialien ist.
Und den Zusammenhang mit der Mikrobiologie, könnten Sie den auch noch kurz erläutern?
Hengge: All die aktiven Materialien, die im Cluster untersucht werden, sind letztendlich biologischen Ursprungs. Eigentlich widerstrebt es mir, sie nur als Materialien zu bezeichnen, denn es sind oder waren zumindest Lebewesen – und Leben bedeutet per Definition Aktivität. Bakterien sind die kleinsten unsichtbaren Lebewesen, die wir lange komplett vernachlässigt haben. Ihre Aktivitäten sind einfach überall. Bakterien machen uns nicht nur hin und wieder krank, sondern wir tragen sie konstant in und auf uns. Und das gilt für alle Makroorganismen in allen Ökosystemen.
Worin besteht die Verbindung speziell zu Ihrer Forschung?
Hengge: Ich selbst habe viele Jahre lang Anpassungsreaktionen von Bakterien an Stress und auch die Bildung von Biofilmen, also großen bakteriellen Gemeinschaften, erforscht. Biofilme sind ursächlich für chronische Infektionen, weil die Bakterien in Biofilmen sehr gut gegen Antibiotika oder auch gegen unser Immunsystem geschützt sind – man kriegt sie also nicht mehr los. Das war schon immer ein Problem, zum Beispiel bei chronisch infizierten Wunden. Deshalb gibt es weltweit sehr, sehr viele Arbeitsgruppen, die über Biofilme arbeiten und versuchen, Substanzen zu finden, mit denen man Biofilmbildung verhindern kann oder vielleicht sogar bestehende Biofilme wieder auflösen kann. Damit erhebt sich die Frage, wo man nach solchen Substanzen sucht.
Ich habe mir irgendwann überlegt, anstatt riesige Stoffbibliotheken in automatisierten Anlagen durchzutesten, lass‘ uns doch mal schauen, wo man solche Substanzen mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit finden könnte. Welche Pflanzen wurden seit tausenden Jahren in verschiedenen Kulturen für die Behandlung von chronisch infizierten Wunden verwendet? Und dann haben wir angefangen, solche Pflanzen zu testen mit all unseren Kenntnissen und Techniken, die wir zur Untersuchung von Biofilmen entwickelt hatten. Es geht also um Interaktionen zwischen Pflanzen und Bakterien und wie diese traditionell von Menschen genutzt werden. Im Rahmen des Clusters ist mir dann aufgefallen, dass es auch hier Projekte zu traditionellen handwerklichen Techniken gibt, die fermentative Anteile haben, wo also offensichtlich Bakterien am Werk sind, die aber mikrobiologisch überhaupt noch nicht untersucht sind. Und so kam das gemeinsame Projekt mit meiner Kollegin Laurence Douny zustande, die als Anthropologin seit vielen Jahren Textilpraktiken in West-Afrika untersucht.
Worum geht es bei dem Projekt?
Hengge: Es geht um eine tatsächlich weltweit vorkommende Textilfärbepraktik, die wir mit Partnern in Burkina Faso untersuchen. Dafür wird Schlamm aus Flüssen oder Teichen und Erde aus Termitenbauten benützt. Bakterien, die in dieser Erde leben, spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Farbe. Aber sie entfalten auch weitere interessante Aktivitäten. Wenn zum Beispiel die „falschen“ Bakterien überhandnehmen, dann bilden sie Biofilme auf den Textilien, die dann die Farbe nicht annehmen. Die lokalen Spezialisten wissen genau, welche Pflanzen sie verstärkt einsetzen müssen, um so etwas zu unterbinden. Es gibt also bestimmte Pflanzen, die eine schädliche Biofilmbildung verhindern. Wir haben das dann im Labor auf zellulärer und sogar molekularer Ebene untersucht: Welche Bakterien sind hier beteiligt, was enthalten diese Pflanzen, wie genau wirken diese auf die Bakterien?
Natürlich erhebt sich auch die Frage, warum wir so viel Arbeit in die Erforschung einer traditionellen Praktik stecken, die eigentlich für uns hier keine Bedeutung hat. Wie verhält sich das zu unserem eigenen Verhältnis zu Textilien? Wir haben heute das Problem der „Fast Fashion“. Wir produzieren viel zu viele Textilien - hauptsächlich aus Kunststoff – und fluten die ganze Welt mit Textilmüll. Können wir von unseren afrikanischen Partnern etwas über nachhaltigeren Umgang mit Textilien lernen? Auch diesen Aspekt unseres Forschungsprojekts versuchen wir für diese Ausstellung aufzubereiten.
Die Ausstellung „Fermenting Textiles“ wird ab dem 16. Mai im Rahmen des _matter-Festivals im Art Laboratory Berlin gezeigt wird. Was zeigen Sie dort konkret?

Traditionelles, mit Schlamm und Pflanzen gefärbtes
Jägerhemd von Adama Séré. Séré ist der Meisterfärber
und hat die traditionellen Färbeprozesse seit 50 Jahren
optimiert (Foto: Regine Hengge/HU).
Hengge: Unser emblematisches Objekt in der Ausstellung ist ein mit Schlamm und Pflanzen dunkel gefärbtes traditionelles Jägerhemd. Es dient der Tarnung in mehrfachem Sinn, einmal farblich, andererseits verhindert es Körpergeruch, wodurch die Tiere, die der Jäger jagt, ihn nicht wahrnehmen können.
Das ist ja quasi Hightech-Funktionskleidung.
Hengge: Ja, eigentlich schon. Es wirkt wie ein natürliches Deo. Das hat damit zu tun, dass die verwendeten Färbepflanzen zugleich Heilpflanzen sind. Anscheinend ist es auch sehr gut für die Haut. Kleine Wunden zum Beispiel heilen sehr schnell. Zudem ist dieses Hemd super nachhaltig. Es besteht aus reiner Baumwolle, alle Zutaten für den Färbeprozess sind lokal und völlig natürlich. Nichts davon wird jemals weggeworfen. Die Färbesuppe, die entsteht, wird sogar als Heilmittel bei bestimmten Krankheiten verwendet, zum Beispiel bei Durchfall. Das kann ich mir gut vorstellen, die verwendeten Pflanzen sprechen dafür.
Ein solches Hemd wird über Jahre vom Besitzer getragen, der dazu eine persönliche Bindung entwickelt, denn er hat viel erlebt in diesem Hemd. Es spielt auch eine Rolle bei festlichen Zeremonien, dann tragen die Jäger zusätzlich Amulette. Das Hemd hat also symbolische und persönliche Bedeutung. Auch diese macht ein Kleidungsstück langlebig und damit nachhaltig. Das heißt, wir müssen Kleidung persönliche Bedeutung verleihen, neben der materiellen Nachhaltigkeit. Auch den medizinischen Aspekt könnten wir auf unsere Kleidung übertragen.
Neben dem dunkelbraun gefärbten Jägerhemd, was wird noch in der Ausstellung zu sehen sein?
Hengge: Wir zeigen diverse Objekte, aber auch Fotos und Videos. Letztere dokumentieren die anthropologische Forschung in Burkina Faso. Da sieht man wie diese Färbepraktiken funktionieren und auch unseren Kooperationspartner Adama Séré. Er ist der Meisterfärber und der Chef der Jäger-Vereinigung. Seit 50 Jahren hat er diese Färbeprozesse optimiert. Und wir zeigen ein „Re-Enactment“ mit lebenden Bakterien, bei dem wir die Interaktionen von Bakterien, Pflanzen und Stoff, die im Färbebad stattfinden und die wir im Labor untersuchen, direkt in großen Petrischalen sichtbar werden. Wir haben Wege gefunden, wie man diese Interaktionen durch Farbumschläge sichtbar machen kann. So kann man sehen, dass die Schoten einer bestimmten Akazienart, die für den Färbeprozess ganz wichtig sind, Wachstumsmuster der Bakterien beeinflussen, so dass diese dann keine Biofilme bilden. Und wir zeigen ein Beispiel, wie man die Nachhaltigkeitsprinzipien des Jägerhemds auf Kleidung in unserem modernen Leben anwenden könnte. Schließlich haben wir zwei Künstlerinnen/Designerinnen, die traditionelle Schlammfärbung von Textilien in Japan untersucht haben, eingeladen, mit einer daraus entwickelten künstlerischen Installation an unserer Ausstellung teilzunehmen.
Bei Ihrer Arbeit in diesem Projekt, aber auch generell in Ihrem Labor und im Cluster arbeiten Sie als Mikrobiologien nicht nur mit Anthropolog*innen und Kunsthistoriker*innen, sondern auch mit Designer*innen und Künstler*innen zusammen. Kann dieses Wissen und diese Erfahrung, die das Cluster auszeichnet, auch wieder in die klassische, also mikrobiologische Forschung zurückfließen und wenn ja, wie?
Hengge: Generell hat sich mein Blick dadurch geweitet. Ich sehe plötzlich überall Bakterien am Werk, wo ich vorher nie drüber nachgedacht habe. Und ich sehe, dass dies interessante Forschungsthemen für die Mikrobiologie eröffnet. Ich sehe aber auch, wie traditionelle Praktiker, Designer, Künstler mit ihren Gegenständen umgehen. Einerseits arbeiten sie sehr viel mit den Händen, andererseits machen alle diese Leute aber auch Forschung. Sie untersuchen ihre Materialien, deren Reaktionsfähigkeit, bauen Dinge, beobachten, wie die sich verhalten. Diese Art von Forschung zeigt Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zu wissenschaftlicher Forschung.
Was ist das Verbindende?
Hengge: Beides braucht Kreativität, denn auch in der Wissenschaft ist nicht alles logische Deduktion. Insbesondere die Hypothesenbildung, die über den aktuellen Wissensstand hinaus geht, braucht Phantasie und Intuition. Aber es gibt interessante Unterschiede, zum Beispiel, wie man mit Komplexität umgeht. In der naturwissenschaftlichen Forschung reduzieren wir Komplexität, um Kausalbeziehungen zu finden. Das heißt, wir brauchen ein möglichst einfaches Setting, das wir kontrolliert konstant halten können, um dann nur einen Parameter zu verändern und zu schauen, wie das System reagiert. In künstlerischer Forschung wird Komplexität nicht systematisch reduziert. Man beobachtet einfach. Und ich glaube, dass das auch reduktionistisch denkenden Naturwissenschaftlern zugutekommen könnte. Man sollte hin und wieder auf dieser höheren Komplexitätsebene ins „unbekannte Unbekannte“ gehen, um neue Dinge zu finden, die man nicht vorhersagen kann. So kann man wunderbare Beobachtungen machen, die dann wieder der Ausgangspunkt sein könnten für naturwissenschaftliche Forschung. Das ist mir in der inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit im Cluster klarer geworden ist.
Interview: Kristina Vaillant
Weitere Informationen
Die Ausstellung „Fermenting Textiles: Weaving together Traditional Craft, Anthropology, Microbiology and Art” von Adama Séré, Laurence Douny, Regine Hengge, Pauline Agustoni und Satomi Minoshima (kuratiert von Regine Rapp und Christian de Lutz) wird am 16. Mai (20 Uhr) eröffnet und ist bis zum 6. Juli 2025 im Art Laboratory Berlin (Prinzenallee 34, Berlin-Wedding) zu sehen.
Website zur Ausstellung im Art Laboratory