Für Olena Kononenko ist eine Rückkehr in die Ukraine derzeit ungewiss. Die Wirtschafts- und Sozialgeografin hat an der Universität in Kiew als Professorin gelehrt. Nachdem dort die Schäden durch einen russischen Angriff wieder repariert sind, könnte der Präsenzbetrieb zum Wintersemester zwar wieder losgehen. Doch die Studierenden sind mittlerweile über das ganze Land verteilt oder ins Ausland geflohen. Auch Kononenko ist geflüchtet. Seit März 2022 forscht die 48-Jährige an der HU zu einem hochaktuellen Thema: dem Wiederaufbau zerstörter Städte und der Wahrnehmung der Bevölkerung. Möglich macht dies ein Fellowship der Einstein-Stiftung für Forschende, deren Wissenschaftsfreiheit gefährdet ist.
Gemeinsam mit ukrainischen, russischen und türkischen Kolleginnen und Kollegen arbeitet sie in der Forschungsgruppe „Urban Futures at Risk“, um die sich die Universität, in diesem Fall die Abteilung Stadt- und Regionalsoziologie am Institut für Sozialwissenschaften, bei der Einstein-Stiftung beworben hatte. Neben festem Einkommen bedeutet dies eine Atempause von Krieg und politischer Verfolgung. Aktuell arbeiten an der HU mehr als 50 gefährdete Forschende – mehr als an jeder anderen Berliner Universität. Das Engagement für Wissenschaftsfreiheit habe sich – angestoßen durch die Grenzöffnung 2015 – erst allmählich entwickelt, betont Silvia von Steinsdorff. „Damals kamen auch junge syrische Studierende nach Deutschland. Für sie war es essentiell, nicht in Flüchtlingsunterkünften festzuhängen, sondern weiter studieren zu können.“ Die Professorin für Vergleichende Demokratieforschung und die politischen Systeme Osteuropas am Institut für Sozialwissenschaften öffnete deshalb das von ihr initiierte deutsch-türkische Masterprogramm Get MA für entsprechend qualifizierte Flüchtende. „Damals war es alles andere als selbstverständlich, die Menschen, die durch den Krieg in ihrer Heimat jede Zukunftsperspektive verloren hatten, sofort bei uns an der Uni aufzunehmen und erst später die Studienordnungen entsprechend anzupassen.“
Als nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei 2016 viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von den Universitäten verwiesen und des Terrorismus angeklagt wurden, hat die Prodekanin für Forschung und Internationales an der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät über das Einstein-Fellowship-Programm rund 15 türkische Kolleg:innen für einige Jahre in ihrem Institut untergebracht. „Einige unserer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind gut mit türkischen Universitäten vernetzt und haben gezielt Menschen hergeholt“, erklärt die Professorin. Diese finden beim Internationalen Büro Hilfe und Unterstützung. Seit März 2020, kurz vor der Corona-Pandemie, gibt es im „Welcome Center“ die unter Berliner Universitäten einzigartige „Stelle für gefährdete Forschende“. Neda Soltani, die selbst vor vielen Jahren als Juniorprofessorin aus dem Iran nach Deutschland geflohen ist, koordiniert dort zentral die Unterstützung für gefährdete und geflüchtete Studierende und Forschende. Dabei überprüft sie zunächst, ob jemand tatsächlich aus der Wissenschaft kommt und im Heimatland von Krieg, eingeschränkter Meinungsfreiheit oder politischer Verfolgung bedroht ist. Ist dies der Fall, sucht Soltani an der HU passende Mentor:innen, um gemeinsam ein Fellowship oder ein Stipendium bei der vom Land Berlin finanzierten Einstein-Stiftung oder bei der Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung zu beantragen. Letztere ermöglicht einen finanziell abgesicherten zweijährigen Aufenthalt an einer Universität. Speziell für Geflüchtete aus der Ukraine hat die HU zusätzlich über einen Spendenaufruf überbrückende Stipendien auf den Weg gebracht.
Handelt es sich um einen Krieg, sei der fachliche Hintergrund der neuen Kollegen und Kolleginnen sehr unterschiedlich, so die Erfahrung von Soltani. „Geht es aber um politische Verfolgung, sind vor allem Rechts-, Kultur- und Sozialwissenschaftler betroffen.“ Ein Teil der Menschen kontaktiere sie direkt und frage nach Möglichkeiten, an der HU zu forschen. Manche würden von politischen Stiftungen geschickt, andere von Lehrenden der HU selbst vorgeschlagen. „Die meisten Anfragen der letzten beiden Jahre kamen aus Afghanistan und der Ukraine. Wir haben aber auch einen renommierten Soziologen aus Brasilien, Anträge aus Indien, der Türkei, Syrien, Jemen und Iran.“ Das Engagement der HU habe sich 2023 nochmals intensiviert, betont Silvia von Steinsdorff. Die Universität koordiniere seit diesem Jahr das neue regionale Netzwerk „Scholars at Risk Berlin-Brandenburg“ und habe sich der US-amerikanischen Initiative „New University in Exile“ angeschlossen. Im April fand zudem eine „Woche für Forschungsfreiheit“ statt, an der Partneruniversität Princeton sei im Herbst ein gemeinsamer Workshop zu dem Thema geplant. Auch die „Berlin University Alliance“ hat sich auf eine gemeinsame Initiative für Forschungsfreiheit verständigt und veranstaltet regelmäßige Treffen. „Ich bin mit der Entwicklung seit 2015 sehr zufrieden“, betont die Professorin. „Die HU reagiert nicht mehr nur auf Krisen, sondern wir haben eine Strategie, wie wir konkret helfen und mit gefährdeten Forschenden kooperieren können.“
Auch Neda Soltani zieht eine positive Bilanz: Immer mehr Lehrpersonal würde sich für gefährdete Forschende einsetzen, auch ihre eigene Stelle sei mittlerweile viel bekannter. Dennoch gibt es nach Ansicht der beiden engagierten Frauen noch genug zu tun: Die Universität könne sich besser vernetzen, die Zahl der Stipendiaten weiter erhöhen, „und außerdem wollen wir uns auch mehr um gefährdete Studierende kümmern“, so von Steinsdorff. Die größte Herausforderung besteht nun darin, dass die Hilfe auf maximal zwei Jahre begrenzt ist. „Viele unserer hochqualifizierten Fellows müssen aber hier bleiben und sich eine langfristige Existenz aufbauen – möglicherweise außerhalb der Wissenschaft“, beobachtet Neda Soltani. Sie bietet deshalb Coachings und Workshops an und plant für das kommende Jahr sogar eine Jobmesse für Tätigkeiten in- und außerhalb der HU. Letztlich gehe es nicht nur darum, den gefährdeten Kolleg:innen zu helfen, so von Steinsdorff: „Auch wir profitieren von deren Wissen.“
Forschen die Betroffenen doch zu Themen wie Korruption oder den Rechten von Minderheiten in ihren Heimatländern genauso wie zu Fragestellungen in Biologie und Chemie. „Hinzu kommt, dass neue internationale Netzwerke sowie persönliche Beziehungen entstehen.“ Einige der allerersten EinsteinFellows arbeiten heute in ihrem Team am Institut für Sozialwissenschaften. Olena Kononenko freut sich darauf, eines Tages in die Ukraine zurückzukehren. „Ich trage Verantwortung dafür, die Erfahrungen, die ich in Deutschland mache, an meine ukrainischen Kollegen weiterzugeben, mit meinem Wissen und den neuen Netzwerken in meinem Land zu arbeiten.“
