Ein neuronaler Code für das Kurzzeitgedächtnis
Wenn das Gehirn Informationen verarbeitet, senden die Nervenzellen in
schneller Folge elektrische Impulse in einem räumlichen und zeitlichen
Muster. Diese neuronale Informationsweitergabe spielt sich im Bereich
weniger Millisekunden ab und repräsentiert dennoch Informationen, die
über längere Zeiträume erlebt oder aufgenommen wurden. Welche zellulären
Mechanismen einer solchen Komprimierung von Ereignisfolgen zu Grunde
liegen können, haben nun Wissenschaftler der Bernstein Zentren für
Computational Neuroscience anhand von elektrophysiologischen
Experimenten und theoretischer Modellierung zeigen können. Die Arbeiten
von Christian Leibold (Ludwig-Maximilians-Universität München), Richard
Kempter (Humboldt-Universität zu Berlin), Dietmar Schmitz (Charité,
Universitätsmedizin Berlin) und ihren Kollegen wurden in zwei aktuellen
Publikation in den wissenschaftlichen Zeitschriften "Neural Computation"
und "Proceedings of the National Academy of Sciences of the United
States of America" veröffentlicht.
"Synaptische Fazilitierung" heißt der zelluläre Mechanismus, von dem
angenommen wird, dass er dem Kurzzeitgedächtnis zu Grunde liegt. Wird
nacheinander mehrmals ein Signal von einer Zelle zur nächsten
übermittelt, verbessert sich die Wirksamkeit der Synapse, der
Verbindungsstelle zwischen den Zellen. Auch wenn diese Verstärkung der
Synapse nicht von Dauer ist, so wird sie doch ein paar Sekunden
beibehalten – die Synapse "merkt" sich Ereignisse. "Erinnerungen, die so
in der Synapse gespeichert sind, müssen vom Rest des Gehirns auch wieder
ausgelesen werden", erklärt Leibold. Wie dies geschieht, diskutieren
Leibold und seine Kollegen am Beispiel der räumlichen Navigation der Ratte.
Kennt sich die Ratte in einer Umgebung aus, hat sie für jeden
Aufenthaltsort so genannte "Ortszellen". Sind Beispielsweise Ortszellen
der Gebiete A und B aktiv, so befindet sich die Ratte im Schnittpunkt
dieser beiden Gebiete. So lange die Ratte sich bewegt, unterliegen die
Ortszellen im Hippocampus einer gemeinsamen Oszillation. Sie senden
Signale bevorzugt im so genannten "Theta-Rhythmus" – vergleichbar mit
Menschen, die nach einem Konzert im Takt klatschen. Dieser Rhythmus
dient als Referenz, um den genauen Zeitpunkt neuronaler Entladungen zu
messen. Je länger sich die Ratte an einem bestimmten Ort befindet,
desto mehr weicht der Takt der betreffenden Ortszellen vom
Theta-Rhythmus ab. So "weiß" die Ratte in jedem Augenblick nicht nur wo
sie sich befindet, sondern auch wie lange sie sich schon in welchem
Bereich aufhält.
Wie die Wissenschaftler aus Berlin und München zeigen konnten, lässt
sich diese Phasenverschiebung durch "Synaptische Fazilitierung"
erklären. Während die Ratte durch ein Ortsfeld läuft, erhält die
betreffende Zelle im Hippocampus mehrmals Signale aus einer
vorgeschalteten Gehirnregion. Die Übertragungseffizienz der Synapse
steigt mit jedem Signal an und die Stärke des Signals nimmt zu. Durch
die zunehmende Signalstärke feuert die Hippocampus-Zelle ihre neuronalen
Impulse etwas schneller als zuvor und gerät damit aus dem Takt.
Wenn sich die Ratte anschließend von ihrem Spaziergang ausruht oder
frisst, prägt sie sich – unbewusst – den durchlaufenen Pfad noch mal
ein. In solchen Ruhephasen werden die besuchten Orte in umgekehrter
Reihenfolge wieder abgespielt. Auch diesem "reverse replay" liegt
möglicherweise synaptische Fazilitierung zu Grunde. Noch mehrere
Sekunden nachdem die Ratte die Strecke von A über B nach C durchlaufen
hat, enthalten die Synapsen Spuren dieser "Erinnerung" – die Synapsen
der Ortszelle C sind am stärksten, die der Ortszelle A sind schon fast
auf Normalniveau abgeklungen. Während die Ratte sich ausruht, werden die
Ortszellen angeregt und geben diese "Erinnerung" Preis. Sie geben
Signale entsprechend unterschiedlicher Signalstärke weiter. Auch hier
wirkt sich die Signalstärke auf den genauen Zeitpunkt des nächsten
Signals aus.
Diese Konvertierung von Signalstärke in eine zeitliche Kodierung wird
durch neuronale Oszillationen unterstützt. In den Ruhephasen liegt
allerdings kein Theta-Rhythmus vor, sondern es treten schnelle
Feldpotential-Schwankungen auf, genannt "sharp wave ripples". Schon
lange nimmt man an, dass sharp wave ripples eine wichtige Rolle bei der
Festigung von Erinnerungen spielen. Wie während der sharp waves
Erinnerungen aus dem Kurzzeitgedächtnis der Synapsen ausgelesen werden
können, zeigt nun die Arbeit der Wissenschaftler aus Berlin und München.
Originalveröffentlichungen:
Leibold C., Gundlfinger A., Schmidt R., Thurley K., Schmitz D. und
Kempter R. (2008).
Temporal compression mediated by short-term synaptic plasticity.
Proc Natl Acad Sci U S A. 2008 Mar 18;105(11):4417-22. DOI:
10.1073/pnas.0708711105
Thurley K., Leibold C., Gundlfinger A., Schmitz D. und Kempter R. (2007).
Phase precession through synaptic facilitation.
Neural Comput. 2008 May;20(5):1285-324. DOI: 10.1162/neco.2008.07-06-292
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Christian Leibold
Ludwig-Maximilians-Universität München
Abteilung Biologie II- Neurobiologie,
Grosshadernerstr. 2
82152 Planegg – Martinsried
Tel.: (0) 89 218074309
E-mail: leibold@bio.lmu.de
Dr. Richard Kempter
Institut für Biologie - Theoretische Biologie
Humboldt-Universität zu Berlin
Invalidenstraße 43
10115 Berlin
Tel.: (0) 30 20938925
E-mail: r.kempter@biologie.hu-berlin.de
Prof. Dr. Dietmar Schmitz
Neuroscience Research Center
Charité Campus Mitte
Charitéplatz 1
10117 Berlin
Tel.: (0) 30 450539054
E-mail: dietmar.schmitz@charite.de
Christine Schniedermann
Pressesprecherin des Präsidenten
Tel.: +49 (0)30/2093-2090
Fax: +49 (0)30/2093-2447
E-Mail: christine.schniedermann@uv.hu-berlin.de
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