Presseportal

„Wir haben in der Agrar- und Ernährungspolitik einen enormen Handlungsstau“

Interview mit dem Agrarwissenschaftler Prof. Dr. Harald Grethe über den Thinktank „Agora Agrar“, dessen Co-Direktor er ist und – angesichts der aktuellen globalen Krisen – über den dringenden Handlungsbedarf in Land- und Forstwirtschaft und im gesamten Ernährungssystem.
Alternativtext

Prof. Dr. Harald Grethe
Foto: privat

Warum braucht es einen Thinktank für Agrarfragen? Gibt es das nicht längst?

Prof. Dr. Harald Grethe: Nein, so etwas wie Agora Agrar gibt es noch nicht – und es gibt zwei Gründe, warum es einen solchen Thinktank braucht: Zum einen muss die Transformation von Landwirtschaft und Ernährung hin zu mehr Nachhaltigkeit Fahrt aufnehmen, damit gesellschaftlich ausgehandelte Nachhaltigkeitsziele wie Klimaneutralität und Biodiversitätsschutz erreicht werden. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu, was dafür getan werden muss, sind recht eindeutig, doch die politischen Rahmenbedingungen zur Umsetzung dieser Erkenntnisse fehlen an vielen Stellen. Zum anderen ist es so, dass die Wissenschaft zwar in unterschiedlicher Weise dazu beiträgt, über die Entscheidungsfindung der Politik zu informieren. Beispielsweise durch die hervorragende Arbeit von wissenschaftlichen Beiräten von Ministerien, wissenschaftlichen Räten der Bundesregierung und wissenschaftlichen Akademien, z.B. der Leopoldina.

Das klassische Format ist dort die Erstellung von Gutachten, die den Stand der Forschung zusammenfassen und politische Handlungsempfehlungen ableiten. Allerdings ist die „Flughöhe“ solcher Gutachten häufig hoch: Viele Empfehlungen sind noch nicht hinreichend mit Interessengruppen diskutiert, noch nicht weit genug hinuntergedacht in Gesetzgebungsverfahren und noch nicht breit und allgemeinverständlich genug kommuniziert. In diese Lücke tritt Agora Agrar: wir wollen es politischen Akteuren leichter machen, wissenschaftsbasierte Konzepte zu nutzen.

Was wollen Sie damit bewirken, vor allem in Ihrer Rolle als Co-Leitender?

Ich war acht Jahre lang Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik und Ernährung beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und habe in dieser Tätigkeit erfahren, wie gut Wissenschaftler:innen in der Lage sind, interdisziplinäres Wissen zu integrieren und Handlungsempfehlungen abzuleiten. Ich habe aber auch die Grenzen erfahren, die sich aus den institutionellen Rahmenbedingungen solcher Beratungsformate ergeben. Die Erarbeitung von wissenschaftlichen Gutachten ist wichtig, aber nicht genug. Wir haben in der Agrar- und Ernährungspolitik einen enormen Handlungsstau. Ich halte es deshalb für wichtig, das wissenschaftliches Wissen im gesellschaftlichen Diskurs sichtbarer und wirksamer wird; dazu möchte ich mit meiner Co-Leitung beitragen.

Welche Probleme wollen Sie vor allem sichtbarer machen?

Es geht uns um die integrierte Betrachtung aller Nachhaltigkeitsdimensionen. Es geht also sowohl um den Klimaschutz, zu dem Land- und Forstwirtschaft sowie Ernährung einen großen Beitrag leisten können, wie auch um den Schutz von Biodiversität, um Gesundheit und um Tierwohl. Die großen Handlungsfelder sind bekannt. Wir müssen deutlich weniger Nutztiere halten und tierische Produkte essen und endlich ein höheres Tierwohlniveau umsetzen.

Im Acker- und Gartenbau geht es um einen nachhaltigeren Pflanzenschutz, eine Verringerung der Nährstoffüberschüsse und mehr Biodiversität in der Agrarlandschaft. Außerdem müssen wir in den kommenden Jahrzehnten einen Großteil der landwirtschaftlich genutzten Moore wieder vernässen, weil sie für hohe Treibhausgasemissionen verantwortlich sind. Schließlich geht es darum, unsere „Ernährungsumgebung“ stärker zu gestalten und damit eine nachhaltigere und gesündere Ernährung für alle zu ermöglichen.

Wie wollen Sie es schaffen, dass die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf Sie hören?

Durch gute Arbeit in den klassischen Formaten eines Thinktanks: Wir werden wissenschaftliche fundierte Analysen liefern, Debatten strukturieren, versachlichen und Fachgespräche mit den für die Transformation zentralen Stakeholdern führen, um die Tragkraft für politische Handlungsoptionen auszuloten und zu erhöhen. Schließlich werden wir konkrete Politikvorschläge machen, die sowohl wissenschaftsbasiert sind, wie auch eine Chance auf Umsetzung haben. Dazu braucht es ein interdisziplinär arbeitendes Team mit sowohl wissenschaftlicher Kompetenz, wie auch Verständnis für politische Prozesse und gesellschaftliche Diskurse.

Wir werden durch private Stiftungen finanziert und sind inhaltlich unabhängig: zu unseren Förderern gehören die Robert-Bosch-Stiftung, Porticus, die Umweltstiftung Michael Otto und die European Climate Foundation. Diese Finanzierung erlaubt es uns, ein Team von vorerst etwa 14 Mitarbeiter:innen aufzubauen und Handlungsstrategien für die oben genannten Politikfelder zu entwickeln.

Ein Problem bei der Nachhaltigkeitstransformation von Landwirtschaft und Ernährung ist die Behäbigkeit von Gesellschaften und Menschen. Wir lieben unsere Gewohnheiten und Rituale. Was könnte der Kipppunkt sein, an dem sich eine Gesellschaft in Fragen von Ernährung, Konsum, Mobilität und Klimabewusstsein endlich grundlegend neu ausrichtet?

Den „einen Kipppunkt“ sehe ich nicht. Aber es kommen zurzeit viele Krisen zusammen, die die Notwendigkeit des Handelns sehr sichtbar werden lassen: Die Klimakrise und die Biodiversitätskrise zeigen, dass wir den Handlungsbedarf in den großen Landnutzungssektoren Land- und Forstwirtschaft, aber auch im gesamten Ernährungssystem nicht weiter verschleppen dürfen – wir können die ja schon gesellschaftlich ausgehandelten und politisch festgelegten Nachhaltigkeitsziele sonst nicht erreichen. Und der Angriffskrieg auf die Ukraine und die dadurch ausgelöste Nahrungsmittelpreiskrise zeigen, dass eine Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit nicht nur ökologisch nachhaltig, sondern auch sozial fair gestaltet werden muss – international wie national. Es geht jetzt darum, diese Krisen in konstruktives politisches Handeln umzusetzen. Dann werden sie zum Kipppunkt.

In den USA geht man als Professor gern von der Universität über einen Thinktank in die Politik und dann wieder zurück in die Wissenschaft. Wird das auch Ihr Weg?

Ich bin sehr zufrieden mit der gegenwärtigen Situation. Sowohl Forschung und Lehre an der Humboldt-Universität wie auch die Co-Leitung eines Thinktanks, der wissenschaftliches Wissen stärker in gesellschaftliche Diskurse und politische Prozesse einbringt, machen mir viel Spaß und sind inhaltlich und auch zeitlich „erfüllend“.

Die Fragen stellte Hans-Christoph Keller, Pressesprecher der HU.

Weitere Informationen

Zum Thinktank „Agora Agrar“