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Die Macht der Entwicklungshilfe

Prof. Dr. Benedetta Rossi (University of Birmingham, United Kingdom) ist Historikerin und Anthropologin und forscht zu Afrika, Arbeit, Sklaverei, Migration und Gender. Von Oktober 2017 bis Juli 2018 ist sie Fellow am IGK „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ der Humboldt-Universität, kurz re:work.

Prof. Dr. Rossi
Foto: re:work

Woran forschen Sie – in 140 Zeichen!

Ich versuche die Bedeutung und den Wert von Arbeit zu verstehen, in Afrika und in vergleichender Perspektive. Und: Was ist Ausbeutung?

Und jetzt etwas ausführlicher, wie erklären Sie Ihrer Mutter Ihre Fragestellung?

In meinem Buch bezeichne ich es als Ausbeutung, dass ein Entwicklungshilfeprojekt in Niger (von 1983 bis 2003) jedem, der im System beschäftigt war – dem Projektmanager, den Entwicklungshelfern, der gesamten ausländischen Belegschaft – Gehälter bezahlte, aber den Frauen aus den Dörfern vor Ort, die 12 Millionen Arbeitstage auf den Baustellen verbrachten, nicht. Für diese Frauen galt das Food-for-Work-Prinzip des World Food Programms der Vereinten Nationen, d.h. sie bekamen eine Mahlzeit am Tag.

Aber warum wurden die beteiligten Frauen nicht bezahlt?

Sie haben genauso zur öffentlichen Infrastruktur beigetragen wie europäische Bauarbeiter, die Straßen und Gebäude instand setzen, auch. Warum wurde von Ihnen erwartet, dass sie sich im Namen der Entwicklungshilfe freiwillig engagieren, während die europäischen Mitarbeiter bezahlt wurden? Wie entscheiden Institutionen, wer bezahlt wird und wer nicht? Wie werden historisch verschiedene Arten von Arbeit von unterschiedlichen Menschen an unterschiedlichen Orten verschieden bewertet? Von der legalen Sklavenarbeit bis zur ausländischen Entwicklungshilfe in Afrika habe ich genau diese Fragen untersucht. 

Professor Rossi, können Sie etwas zum Titel Ihres Buches “From Slavery to Aid” sagen, mit dem Sie die neue Abhängigkeit nach der Sklaverei betonen?

Mein Buchtitel lenkt die Aufmerksamkeit auf die Kontinuitäten und die Veränderungen des Arbeitslebens über die Regimewechsel hinweg. Wir begreifen Sklaverei immer als moralischen Irrweg und Entwicklungshilfe als uneigennützig. Aber in meinem Buch zeige ich, dass die europäische Abschaffung der Sklaverei eigennützig war und mit der Einführung neuer Formen unfreier Arbeit einher ging. 

Während Zwangsarbeit abgeschafft wurde, erlaubte es die Idee der Entwicklungshilfe der Kolonialverwaltung, afrikanische Arbeiter weiterhin ohne Lohn arbeiten zu lassen – „zu ihrer eigenen Entwicklung“. Nach der Unabhängigkeit setzte sich diese Idee fort: nationalistische afrikanische Regierungen erwarteten von ihren Bürgern, sich im Namen der nationalen Erneuerung und Modernisierung ehrenamtlich mit ihrer Arbeit zu beteiligen. 
Ich interessiere mich dafür, was für Ansprüche an die Arbeit von Menschen gestellt werden können und was für Möglichkeiten bestehen, Arbeitsbedingungen mitzuverhandeln.

 

Women working on project site
Frauen, die im Projekt Food-For-Work in Niger arbeiten. Foto: Benedetta Rossi

Was für Unterschiede gelten hinsichtlich der Arbeit von Männern und Frauen?

Nach der Abschaffung der Sklaverei hatten ehemalige männliche Sklaven und weibliche Sklavinnen unterschiedliche Möglichkeiten. Aufgrund der geschlechtsspezifischen Aufteilung von Arbeit und der bestehenden Gender-Ideologie hatten Frauen weniger Möglichkeiten für sich selbst zu sorgen als Männer. Menschen sind sich ihrer Optionen bewusst und entwickeln bestimmte Strategien, die auf ihre Lesart der Möglichkeiten abgestimmt sind. In der Region in Niger, die ich erforschte, war es für männliche Arbeiter, auch für ehemalige Sklaven, einfacher woanders Arbeit zu suchen und über Besitz zu verfügen als für Frauen. Frauen konnten sich nicht im selben Maße bewegen, über eigene Einnahmen bestimmen oder die Aufsicht über die Arbeit Anderer führen wie Männer. Die ärmsten dieser Frauen hatten nur zwischen der Teilnahme in dem oben erwähnten Projekt mit der Food-for-Work-Bezahlung oder Hunger die Wahl. Enthusiastisch nahmen sie am Projekt teil.

Frau mit Kind bei der Arbeit
Arbeiterin mit Kind im selben Projekt.
Foto: Benedetta Rossi

Dann ist Hilfe nicht immer hilfreich?

Ich denke, wir sollten fragen, was genau unter Hilfe verstanden wird, warum und mit welchen Konsequenzen für die verschiedenen beteiligten Gruppen. Es wird immer als gegeben genommen, dass Entwicklungshilfe den Armen hilft. Aber innerhalb der Entwicklungshilfe gibt es ungleiche Positionen: wer nimmt die Rolle des Helfenden ein und wer wird als unterentwickelt betrachtet? Kann es sein, dass die Entwicklungshilfe sich selbst mehr hilft als den Armen, also dass von der internationalen Entwicklungshilfe (Official Development Assistance, ODA) im Wesentlichen die profitieren, die die Rolle der Helfenden einnehmen?

Wie transparent ist die Entwicklungshilfe?

Entwicklungshilfe gibt es seit über 50 Jahren und wir können ihre bisherige und gegenwärtige Handhabung untersuchen. Aber an die relevanten Informationen kommen wir nicht immer heran. Es ist schwer, etwas über den Anteil der Löhne der ODA zu erfahren, oder wie Gehälter sich auf Nationalitäten aufteilen und wie innerhalb der großen Spendenorganisationen.

Ein anderes Problem gegenwärtiger internationaler Hilfe ist, dass die Entwicklungshelfer den Empfängern ihrer sogenannten Hilfe, keinerlei Rechenschaft schuldig sind: Es ist unwahrscheinlich, dass sie ihre Jobs verlieren oder dass sie abgewählt werden, falls ihre Strategien für diejenigen, denen sie helfen sollen, nicht greifen. Wir können Entwicklungshilfe nicht als einen Wert an sich verstehen. Wir müssen sie in Frage stellen, genauso wie wir die „zivilisatorische Mission“ des Kolonialismus in Frage stellen.

Was sagen die Menschen vor Ort, wenn Sie die Entwicklungshilfe kritisieren?

Viele der guten Einschätzungen kamen von Leuten, die ich im ländlichen Niger traf. Ein Bauer sagte mir, dass wenn der See, an dem er und 500 andere Arbeiter Tomaten züchteten, nicht technisch weiter unterstützt würde, das gesamte Dorf vor dem Nichts stehe. Als er hörte, dass die Kosten-Nutzen-Analyse ergeben hatte, dass sich eine Instandhaltung der Geräte nicht lohne, sagte er: „Ich habe im Radio gehört, dass man in Dubai einen Skiort gebaut hat. Ist es effizient Schneehänge in der Wüste zu bauen? Studien und Kosten-Nutzen-Analysen sind nur Entschuldigungen. Der Punkt ist, dass unsere Leben es nicht wert sind, diesen See zu erhalten.“ Er hatte recht. Weder Investoren noch Politiker hatten ein Interesse daran, zu dieser Zeit den Tomatenanbau in Keita zu unterstützen. Tatsächlich hat man dieses Projekt eingestellt. 

 

tomatoe producer
Geschnittene Tomaten werden zum Trocknen ausgelegt. Foto: Benedetta Rossi

Warum ist es so schwer, etwas zu verändern?  

Die Mächtigen wollen ihre Macht nicht aufgeben. Eine Veränderung tritt nur ein, wenn sie für die Mächtigen interessant ist. Aber Hierarchien reproduzieren sich nicht nur durch offene Ausbeutung und Unterdrückung. Auch für diejenigen, die sich auf der untersten Stufe befinden, gibt es Anreize die Hierarchien zu akzeptieren und zu versuchen, sie für sich zu nutzen, statt sie zu hinterfragen.

Ungleichheiten zu naturalisieren ist der effektivste Weg, um Hierarchien zu zementieren. Denn die vorgeblich naturgegebenen oder gottgewollten Unterschiede, sind auch für die, die etwas verlieren würden, am angenehmsten. So funktioniert Macht in meinen Augen in allen Regionen und Gesellschaften. In Afrika wiederum haben Sklavenbesitzer versucht, die Minderwertigkeit afrikanischer Sklaven als naturgegeben zu propagieren. Einige Sklavenbesitzer kollaborierten mit Kolonialherren, um sich besser zu stellen, auch wenn sie damit am Ende die Kolonialmacht stärkten. Genauso haben einige afrikanische Sklaven durch Unterwerfung Schutz und Beistand durch ihre afrikanischen Besitzer erfahren, auch wenn dies die Macht der Sklavenhändler insgesamt festigte.

Können Sie ein Bespiel geben, wie sich heutzutage Hierarchien selbst reproduzieren?

Ja, wie gesagt, Hierarchien suchen ihre Fortsetzung. Diejenigen, die sich akzeptierten Normen widersetzen, müssen einen hohen Preis bezahlen. Und das gilt wiederum nicht nur für Afrika. Ich arbeitete in Liverpool, als die Universitätsgebühren in UK extrem erhöht wurden. Der Wettbewerb um Stipendien verschärfte sich sehr. Aber die Reaktionen von Studentinnen und von Studenten waren unterschiedlich. Irgendwann kam eine Studentin zu mir, und erklärte, dass sie die dem Druck der Prüfungen und dem anstrengenden Bewerben auf Stipendien nicht standhalten könne und stattdessen in einem Pub arbeiten würde. Ihr Freund, der einen guten Job hätte, würde sich um sie kümmern. Diese Option lag für Frauen näher als für Männer, denn die vorherrschenden Rollenbilder machten es einer Frau einfacher von ihrem Partner ausgehalten zu werden als einem Mann. Und genau das meine ich mit der Reproduktion der Hierarchie, die hier weiter dazu führt, dass Frauen zu Hause bleiben.

Und das passierte in einem Land mit einer langen feministischen Tradition. Keiner würde hier heute behaupten, dass Frauen biologisch nicht geeignet sind für Positionen jenseits von Heimarbeit. Aber die Ungleichheit der Geschlechter gibt es weiterhin und reproduziert sich selbst. Ich will nicht, dass jeder gleich sein soll. Aber Menschen – Männer und Frauen, Weiße und Schwarze, freie und die, die von Sklaven abstammen – sollten die gleichen Chancen bekommen. Dann können sie sich entscheiden, anders zu sein.

Was kann jetzt getan werden?

Wir könnten versuchen, die Welt weniger zu “retten” und mehr zu verstehen. Ich stehe Rezepten, die die Welt retten wollen, sehr skeptisch gegenüber. Diese Rezepte werden meistens von denjenigen propagiert, die für sich selbst die Rolle des Retters reklamieren. Sie schreiben Identitäten und Problemen ganz bestimmte Eigenschaften zu, essentialisieren diese. Ich werde misstrauisch, wenn es heißt, wir retten „Afrika“, „die Frauen“, „die Armen“. Stattdessen will ich wissen, welche Machtstrukturen und Maßnahmen von diesen Mantras aufrechterhalten werden, welche Konsequenzen dies für die verschiedenen beteiligten Gruppen und Individuen hat. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen können die Welt verbessern, wenn sie sorgfältige Interpretationen der Welt liefern. Mit ihrer Hilfe können sie leere Floskeln als bloße Rhetorik entlarven und so eine Vorstellung von Veränderung geben und vielleicht auch eine Vorstellung, dessen, was sein sollte.

Das Interview führte Anne Tilkorn, Online-Redakteurin der HU.

Weitere Informationen

Webseite des Internationale Geisteswissenschaftlichen Kollegs „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“, kurz re:work

Webseite von Benedetta Rossi

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