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„Wir brauchen die digitale Durchformung der Disziplinen!“

Rüdiger Hohls (Humboldt-Universität) und Christian Thomas (Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) erklären, wie Geistes- und Kulturwissenschaften von computergestützten Methoden profitieren

Digital Humanities
Rüdiger Hohls und Christian Thomas organisieren
gemeinsam im laufenden Wintersemester eine
Ringvorlesung zu „Digital Humanities“.
Foto: Ralph Bergel

Datenbestände digitalisieren, geeignete Werkzeuge zur Arbeit mit diesen entwickeln, kurzum: die Digitalisierung in den Geisteswissenschaften voranbringen. Nichts Geringeres haben sich Rüdiger Hohls, Professor für Historische Fachinformatik am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität, und Christian Thomas, Literaturwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, auf die Fahnen geschrieben. Gemeinsam organisieren sie in diesem Wintersemester die Ringvorlesung „Digital Humanities: Die digitale Transformation der Geisteswissenschaften“ im Rahmen der Initiative des Interdisziplinären Forschungsverbundes Digital Humanities in Berlin (if|DH|b). Finanziert wird das Projekt vom Berliner Senat. Im Gespräch berichten die Wissenschaftler über aktuelle Entwicklungen und Zukunftsvisionen im Bereich des Digitalen.

Herr Hohls, Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt in der Historischen Fachinformatik. Was müssen sich Laien darunter vorstellen?

Rüdiger Hohls: Im Konkreten geht es darum, den Studierenden spezielle Methoden zu vermitteln, mit denen sie historische Datenbestände aufbauen und Quellen analysieren können. Dabei stehen heute digitale Werkzeuge zur Verfügung, die es ihnen ermöglichen, effektiver als es die klassische, eher hermeneutisch orientierte Geisteswissenschaft tat, größere Datenbestände zu untersuchen.

Wie unterscheidet sich eine digitale Arbeitsweise von vorherigen Ansätzen in den Geisteswissenschaften?

Rüdiger Hohls: Nehmen wir als Beispiel, dass Sie den Nationalsozialismus-Schlüsselbegriff der „Volksgemeinschaft“ untersuchen und herausfinden wollen, ob dieser tatsächlich erst im Nationalsozialismus zum Tragen kam. Der klassische Ansatz ist, dass Sie zahlreiche Zeitungsartikel oder Briefe bis zum Umfallen lesen. Das könnte sehr mühselig werden, wenn Sie sich die enorme Quellenmenge der 1920er Jahre oder des späten Kaiserreichs ansehen. Aber wenn die Dokumente digitalisiert sind, dann gibt es nicht nur Suchmöglichkeiten, sondern auch eine Umfeldsuche. Sie haben in digitalen Korpora also nicht nur eine sehr viel höhere Trefferwahrscheinlichkeit, sondern können dann auch viel besser einschätzen, in welchem Kontext der Begriff verwendet wurde.

Für das Wintersemester 2018/19 planen Sie die Einführung eines neuen Studienschwerpunktes, der Digital History heißen soll. Was ist der Hintergrund?

Rüdiger Hohls
Hohls plant einen neuen Studienschwerpunkt Digital
History. Foto: Ralph Bergel

Rüdiger Hohls: Wir brauchen für die digitale Transformation der historischen Geistes- und Kulturwissenschaften entsprechend ausgebildete Experten und bislang gab es – zumindest im Raum Berlin-Brandenburg – keine klare Qualifikationsmöglichkeit, mit der sich Absolventinnen und Absolventen gezielt bei Einrichtungen wie Bibliotheken und Archiven bewerben konnten, die sich ja alle bereits in der Digitalisierungstransformation befinden. Das Ziel ist, die Studierenden soweit zu qualifizieren, dass sie in laufende wie neue Projekte reingehen und dann auch eigene Ideen innerhalb der Projektlaufzeit effektiv entwickeln können.

In diesem Wintersemester haben Sie gemeinsam eine Ringvorlesung organisiert. Haben Sie ein Beispiel, mit welchen Themen Sie sich dort auseinandersetzen?

Christian Thomas: Thomas Bremer von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin hat dort zum Beispiel Virtual-Reality-Systeme als Werkzeug für die Archäologie vorgestellt. Er benutzt Games Engines, um unter anderem die Grabstätten von Palmyra nachzubilden. Das heißt, Sie bewegen sich als Forscher in einem 3D-Modell und können millimetergenaue Messungen in diesem virtuellen Raum vornehmen.

Rüdiger Hohls: Hintergrund ist, dass historische Orte wie Palmyra mit 3D-Scannern aufgenommen wurden, die die Topografie mit tausenden von hochaufgelösten Fotos abgescannt haben. Diese 3D-Scanner sind in der Lage, auch Reliefs mit unterschiedlicher Beleuchtung in der Tiefenstruktur sauber mit aufzuzeichnen. Sie können dann als Forscher qua virtueller Brille in das Ausgrabungsfeld hineingehen und die Objekte zu sich heranziehen oder wegschieben, permanent die Perspektive ändern.

Christian Thomas: In den Digital Humanities gibt es die Idee, dass man zwischen der abstrakten Vogelperspektive und der granularen, feinen Ebene wechselt. Und genau diese Idee haben Bremer und seine Kollegen, wie ich fand, sehr beeindruckend umgesetzt. Das Beispiel zeigt auch sehr schön, wie sich Disziplinen im Rahmen der Digitalisierung erweitern können. Dass die Archäologie jetzt mit Computerspielesystemen arbeitet, ist ja eigentlich überraschend. Aus der Editionswissenschaft gibt es auch so ein Beispiel im Bereich der Textkollation – das ist der automatische Vergleich verschiedener Varianten von Texten. Dahinter steht ein Modell, das eigentlich aus der Biologie kommt und ursprünglich für den Vergleich von DNA-Sequenzen entwickelt wurde.

Wenn Sie versuchen, sich eine optimale Zukunft in Hinblick auf Digitalisierung vorzustellen – wie wird sich Ihre Arbeitsweise in zwanzig Jahren verändert haben?

Christian Thomas
„Disziplinen erweitern sich durch
Digitalisierung“, sagt Thomas.
Foto: Ralph Bergel

Christian Thomas: In zwanzig Jahren habe ich nicht nur die Möglichkeit, für meine wissenschaftliche Arbeit auch solche Systeme zu verwenden, die ursprünglich aus einem anderen Kontext stammen und somit nicht ohne Weiteres für wissenschaftliche Zwecke geeignet sind – wie sie heute unter anderem kommerzielle Anbieter wie Google und Microsoft anbieten. Dann gibt es leicht zu bedienende Tools, die aber auf einer fachwissenschaftlich gesicherten, für mich nachvollziehbaren, nachprüfbaren und zugänglichen Datenbasis laufen. Und es wird natürlich viel mehr Digitalisate geben, die ich dann mit den entsprechenden Werkzeugen auch multilingual untersuchen kann.

Rüdiger Hohls: Ich glaube, wir brauchen letztlich die digitale Durchformung der Disziplinen selbst. Und ich glaube, das wird in zwanzig Jahren erreicht sein. Es wird ein Übergangsphänomen der Spezialisierung auf das Digitale geben, dann wird das Know-how in die Disziplinen hinein diffundieren und dann wird das digitale Arbeiten in den Geisteswissenschaften zum Standard werden. Wir haben ja auch keine Digital Chemistry oder Digital Physics, sondern die Chemiker beziehungsweise Physiker arbeiten schlicht und ergreifend mit digitalen Methoden. Die Digital Humanities werden dennoch nicht verschwinden, sondern als Impulsgeber für bestimmte Weiterentwicklungen dienen, aber im Grunde werden die Disziplinen selbst digital werden.

Das Interview führte Nora Lessing

Weitere Informationen

Die nächste Veranstaltung der Reihe „Digital Humanities: die digitale Transformation der Geisteswissenschaften“ findet am 30. Januar 2018 unter dem Titel "Forschungsdaten(management) in den Digital Humanities – Eine Annäherung“ statt, dann mit Heike Neuroth von der Fachhochschule Potsdam.

Zeit und Ort: HU-Hauptgebäude, Hörsaal 2091/92, 10117 Berlin.