Grußwort zur Eröffnung der Ausstellung „Johann Gustav Droysen 1808-1884“
„Vorworthistoriker“, „politischer Historiker“ – seit längerem, verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Hackel und liebe Damen und Herren, seit längerem frage ich mich, ob man nach der radikalen Dekonstruktion der uns allen wohl vertrauten Droysen-Hagiographie durch unseren Kollegen Wilfried Nippel als einer der bisherigen Mittäter im Idealisierungskartell überhaupt noch unbefangen das Wort ergreifen kann und sei es im schlichten Rückzug auf die Rolle als Präsident einer Universität, an der Droysen einst studierte, dann beschäftigt war und die nun das Glück hat, eine Ausstellung über ihn zu beherbergen. Sie ahnen ohne viele Worte, zu welchen Ergebnissen das Nachdenken geführt hat: Unbefangen kann ich post Nippel locutum natürlich nicht mehr das Wort ergreifen und auf die Rolle des Präsidenten, der für eine wunderbar vorbereitete Ausstellung dankt, wollte ich mich auch nicht zurückziehen. Und das, obwohl der offenbar begnadete Lehrer Droysen, der in Schule wie Hochschule anscheinend Beeindruckendes leistete, sich durchaus als Aufhänger für das übliche Humboldt-Mantra „Forschung und Lehre“ eignen würde – allein, ich habe in den vergangenen zweieinhalb Jahren so häufig solche wilhelminischen Pseudohumboldtiana zu dekonstruieren versucht, daß ich so schlicht vor den Nippelschen Dekonstruktionen nicht davonrennen darf. Ich werde Sie alle also vielmehr hier als Kirchenhistoriker und Theologe begrüßen, mich der Herausforderung eines neuen Diskussionsstandes stellen und das Grußwort nach bekannt deutscher Manier zunächst einmal zur selbstbezüglichen Vergangenheitsbewältigung nutzen und zunächst also – pater peccavi – bußfertig bekennen, wo ich als bisheriger Mittäter im Idealisierungskartell schuldig geworden bin. Daß ich dann – ebenfalls nach bekannt deutscher Manier – trotzig noch einige Lesefrüchte des Dilettanten im Werk Droysens nachreiche und meine eigenen Schlüsse daraus ziehe, hängt – um den Satz in die Ironie zu wenden – ganz schlicht daran, daß ich vor rund zwölf Jahren ein einführendes Lehrbuch für kirchengeschichtliche Proseminare geschrieben und dabei Droysens Historik immer wieder benutzt habe und bei der anstehenden Revision zu radikalen Eingreifen wenig geneigt bin. Berufen darf ich mich immerhin darauf, daß selbst Wilfried Nippel, dem eine Rezensentin „untergründigen Groll“ gegen Droysen unterstellte, in seinem Buch schwärmen kann wie Felix Mendelssohn-Bartholdy: „Ich lobe mir’s Lebendige, Fruchtbare, und danke Dir von ganzem Herzen, daß Du mir jene Welt so lebendig gemacht hast“, schreibt der Freund dem Freunde unter Datum vom 24. Januar 1838 über die Aristophanes-Übersetzung Droysens; genialisch nennt Nippel die von ihm luzide in die Debatte der Zeit eingeordnete Übersetzung.
Nun aber zu den angekündigten zwei Teilen des Grußwortes und also zunächst einmal das Pater peccavi des einstigen Mittäters im Kartell der Idealisierer. Natürlich hat Nippel recht. Droysen ist – „Vorworthistoriker“, wie übrigens so manche andere auch. Er schreibt über Alexander den Großen und seine Nachfolger, er baut über Vorworte und Titeländerungen eine veritable „Geschichte des Hellenismus“ zusammen, in der das im Vorwort entfaltete hochtheologische Konstrukt eines vom Paradies an die Welt prägenden Ringen zwischen Orient und Okzident das Werk selbst überhaupt nicht prägt oder strukturiert und entsprechend auch der Ton des Vorwortes in der zweiten Auflage drastisch ermäßigt wird; jeder, der den Text des in drei Bänden nachgedruckten Werkes auf der im Handel befindlichen CD-Rom nach dem nämlichen Stichwort „Hellenismus“ durchsucht, wird sofort verstehen können, was Nippel meint und ich gern bestätige: Gerade weil die hochtheologische Deutung des Hellenismus im Kontext eines Weltringens sich in den Bänden der Geschichte des Hellenismus am historischen Stoff nicht belegen ließ und zurückgezogen wurde, konnten entsprechende Debatten über die Hellenisierung des Christentums oder über das Verhältnis von Judentum und Hellenismus ausbrechen – mir scheint, wenn man von Droysen über Harnack bis Hengel diese Debatten verfolgt, der Begriff nur noch mäßig geeignet, um als Leitkategorie für die Beantwortung der berühmten Fragen nach der geistigen Signatur von Religionen, Religionskonstellationen oder Epochen zu dienen. Für eine Geschichte des antiken Christentums halte ich ihn nach zwölf Jahren selbständiger akademischer Lehrtätigkeit inzwischen für vollkommen unbrauchbar und warte gespannt, ob jemand die Wiederbelebung dieser begriffsgeschichtlichen Leiche noch einmal gelingt.
Sodann: Natürlich ist auch das Material, das wir seit den Editionen des zwanzigsten Jahrhunderts „Historik“ nennen und nutzen, nicht einfach „reine Theorie“, sondern der Versuch, sich in einem Feld, oftmals einem Schlachtfeld von Debatten über historische Methode zu profilieren, einen Standort jenseits von Ranke und Buckle zu begründen, das unter dem Dauerfeuer abgebrochene Großprojekt einer Geschichte der alten Welt und die anderen Schwerpunkte des Lebenswerkes als praktische Triebe ein- und desselben Theoriebaumes zu präsentieren. Und sicher hat die „Historik“ genannte Einführungsvorlesung auch eine politische Dimension im weltanschaulichen Deutungskampf der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts: Daß die Geschichtswissenschaft magistra vitae wurd in einem ganz unmittelbaren Sinn, ist sicher auch ein Ziel der Geschichtsphilosophie Droysens, die Nippel als Strategie deutet, eine dem Urheber mindestens dann verborgene Strategie, wenn er dem Freund Mendelssohn-Bartholdy über den Unsegen unseres nur theoretischen Lebens schreibt, 1846 noch dazu.
Ohne daß ich also ein Jota von solchem Denkmalssturz abmarkten und meine confessio peccati dadurch entwerten möchte, bleibt natürlich die Frage, ob doch noch mehr und anderes über Droysen zu sagen ist als eben diese eher kritischen Bemerkungen zur „Geschichte des Hellenismus“ und zu den Grundrissen der Historik. Zugegeben: eine reichlich weite Frage, die nun ganz gewiß nicht in einem Grußwort beantwortet werden kann, im Grunde nach den Gesetzen des Genres nicht einmal als Frage angerissen werden dürfte. Mir geht es auch nicht um ein Projekt der Rettung Droysens – wenn Nippel ihn tatsächlich versucht haben sollte, vom Denkmal zu stürzen, sticht der Einwand, daß er da längst nicht mehr drauf stand, allenfalls in bestimmter Perspektive, etwa aus der westfälischen Tiefebene. Nein, sie ahnen, daß der Kirchen- und Theologiehistoriker gern noch einmal seine Fragen an Person und Oeuvre Droysens stellen würde, also beispielsweise fragen würde, ob wir schon genügend den Einfluß des früh verstorbenen Vaters, des Garnisonspfarrers und Superintendenten Johann Christoph Droysen wahrgenommen haben. Ich denke nicht nur an die tief geschichtstheologische Herleitung des Hellenismus aus dem endzeitlichen Kampf von Orient und Okzident, nein, ich denke beispielsweise auch an bestimmte Passagen der Historik, beispielsweise die über geschichtliche Schuld. Wenn man aus Droysens Historik nicht nur einen Nachweis der unhintergehbaren Subjektivität des Historikers lesen darf, sondern auch eine Rechtfertigung von Parteilichkeit als unüberwindbarer Standortgebundenheit – dann wäre ohne viele Worte deutlich, daß hier vielleicht weniger problematische Historiographie denn eine niemals überwundene theologische Eierschale, wenn nicht mehr, vorliegt. Nippel spricht von „geschichtsreligiösen Geraune“ (S. 231), ja, so muß das die nüchterne Kritik formulieren, der Theologiehistoriker sieht darin den nationalreligiösen Aufbruchston der antinapoleonischen Erhebung, mithin des Milieus, in dem Droysen aufgewachsen ist. Und natürlich nicht nur den nationalreligiösen Aufbruchston, sondern – beispielsweise in den berühmten Worten vom fragmentarischen Charakter unserer Rekonstruktion von Vergangenheit am Schluß seiner Jenaer Vorlesung – eine deutliche Widerspieglung von Grundelementen einer klassischen protestantischen, lutherischen Anthropologie, in der die Vollendung menschlicher Fragmentarität von anderswoher erwartet wird als von der Quellenarbeit des Historikers. Ich muß abbrechen, auch wenn es jetzt natürlich lohnen würde, Ranke ins Zwiegespräch zu ziehen, der mindestens ebenso deutlich seine theologischen Eierschalen verrät und sich nicht in nüchterner Quellenkritik und ironischen Sottisen darüber, wie es eigentlich gewesen, erschöpft. Allein: Das heute nicht, jedenfalls nicht in einem Grußwort. Nur noch soviel: Jedenfalls ist deutlich, daß es weder heute noch damals beim Streit allein und ausschließlich um die Bedeutung der Quellenkritik geht oder ging, würden wir dies behaupten, wären wir erneut den Selbststilisierungen von Historikern zum Opfer gefallen. Der Streit zwischen Droysen und Ranke läßt sich ebenso wenig auf die Quellenkritik reduzieren, wie das abschließende Urteil über Droysen von dieser methodologischen Kernaufgabe des Historikers allein her gefällt werden darf. Ein kluger Historiker im Feuilleton einer Frankfurter Zeitung hat geschrieben: „Die Wucht von Nippels polemischer Auseinandersetzung rechtfertigt sich aus einer glänzenden Demonstration der Leistungskraft der Quellenkritik“. Das beginnt schon bei Nippels Bemerkungen zu der Quellenbasis des Buches über Alexander den Großen: Droysen „hatte mitnichten, wie später … behauptet wurde, ‚Quellenforschung betrieben“, bilanziert der Biograph nüchtern (31). Ich für meinen Teil halte, vielleicht auch aus berufsbedingter Blindheit, daran fest, daß die unterschiedlichen geschichtstheologischen Prämissen – und heutigentags auch die negative Geschichtstheologie in Gestalt ihrer expliziten Ablehnung – für das Verständnis der großen Kontroversen des neunzehnten Jahrhunderts einschlägig sind.
Nun muß ich wirklich abbrechen, bevor ich beginne, eine Vorlesung zu halten. Abbrechen, um zu danken. Denn es ist die wunderschöne Ausstellung von Frau Hackel und den ihren, die solche Fragen provoziert, es ist die Biographie von Wilfried Nippel, die zu solchen Debatten anregt – mithin sind alle wichtigen Voraussetzungen für neue Debatten um Droysen hier in dem Hause gelegt worden, in dem er einst wirkte. Das ist nicht wenig und dafür ist allen Beteiligten sehr herzlich zu danken.
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident der Humboldt-Universität