Grußwort anläßlich der Rede Joseph Borrell Fontelles, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments,
am 11. Januar 2007 an der Humboldt-Universität zu Berlin
Am 5. März 1946 hielt der ehemalige britische Premierministier Sir Winston Churchill eine Rede, von der die meisten Menschen gerade einen Satz kennen, diesen aber auch sehr gut, manche aus leidvoller Erfahrung nur zu gut. In dieser Rede anläßlich der Verleihung einer Ehrendoktorwürde sprach Churchill über die jüngsten besorgniserregenden politischen Entwicklungen in Europa und formulierte die viel zitierten Worte über den „iron curtain“: Von Stettin bis Triest habe sich ein eiserner Vorhang über den europäischen Kontinent niedergelassen. Diese Worte machten Geschichte und sind bis zum heutigen Tag die bekannteste Metapher für den Kalten Krieg und die Teilung Europas. Winston Churchills äußerte seine so bekannten Worte nun aber nicht vor Politikern, beispielsweise vor den Kammern des Parlamentes in Westminster, sondern vor Studenten auf einem Campus in Fulton, Missouri; hielt also seine europapolitische Grundsatzrede vor Studierenden – und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch vor dem damaligen amerikanischen Präsidenten, der aus Missouri stammte. 1946 war es in vielfacher Hinsicht eine Ausnahme, daß überhaupt solche europapolitischen Grundsatzreden gehalten wurden und daß sie vor Studierenden einer Universität gehalten wurden, noch einmal ganz besonders ungewöhnlich.
Hier an der Humboldt-Universität zu Berlin sind solche europapolitischen Grundsatzreden quasi zu einer Selbstverständlichkeit geworden, seit im Jahre 2000 der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer unter dem Titel “Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration“ hier im Auditorium Maximum gesprochen hat. Seither haben viele bedeutende Politiker, zuletzt Dominique de Villepin, Giscard d’Estaing oder Richard von Weizsäcker ihre Visionen von Europa dargelegt und sich mit Mitgliedern unserer Universität, vor allem Studierenden, darüber in Vortrag und Seminar austauschten. Das verdankt die Universität dem Walter-Hallstein-Institut und insbesondere seinem Vorstand, Herrn Kollegen Ingolf Pernice, dem öffentlich für solchen Einsatz zu danken mir nach so vielen Vorträgen mir ein herzliches Bedürfnis ist, weil solche Vorträge und Diskussionen der originäre Beitrag einer Universität zum europäischen Einigungsprozeß sind und andererseits die Akteure der europäischen Einigung in die Mitte Berlins und vor die künftige Elite unseres Landes – die natürlich an der Humboldt-Universität studiert – bringen.
Daß die ehrwürdige Reihe nun heute durch den Präsidenten des europäischen Parlaments, also des europäischen Souveräns, gekrönt wird, erfreut und bewegt uns, die ganze Universität, sehr. Dabei könnte Josep Borrell Fontelles durchaus auch als Universitätswissenschaftler sprechen, ist er doch Professor für Wirtschaftsanalyse an der Universidad Complutense in Madrid gewesen, bevor er sich begann politisch zu engagieren, 1979 in den Stadtrat von Madrid gewählt wurde und 1986 einen Sitz im spanischen Parlament einnahm. Daß Präsident Borrell seine Rede hier wenige Tage nach dem Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft in Berlin hält, ist darüber hinaus ein bewegendes Zeichen, für das wir besonders dankbar sind.
Am heutigen Tag, nicht ganz 61 Jahre nach der Rede Churchills vor den Studenten in Missouri befinden wir uns nicht mehr vor oder hinter einem eisernen Vorhang. Der Kalte Krieg ist vorbei und gerade, zum 1. Januar 2007, haben wir zwei ehemalige Ostblockstaaten symbolisch wieder in die Mitte Europas zurückgeführt. Aber die Idee eines vereinten Europa ist trotz ihrer beeindruckenden Erfolgsgeschichte – denn wer hätte 1946 von solchen Entwicklungen zu träumen gewagt – durchaus noch der Präzisierung und des Weiterdenkens bedürftig, wie jedem aufmerksamen Zeitungsleser deutlich ist und man muß nicht nur gelegentlich gegen den Eindruck argumentieren, es sei eine Art Krise der europäischen Idee zu konstatieren. Sicher nicht in Spanien – im Heimatland von Präsidenten Borrell wurde bereits im Jahre 2005 die Europäische Verfassung in einem Volksentscheid angenommen. Insofern, lieber Herr Borrell, erwarten wir von der spanischen Leidenschaft für Europa, die sie so glaubwürdig verkörpern, nicht nur heute abend wichtige Wegweisung.
In einem Live-Chat des deutsch-französischen Fernsehsenders Arte im Oktober 2005 wurde Präsident Borrell gefragt, ob nicht das Risiko bestünde, daß Europa ohne eine Verfassung seinem Ende zugehe. Borrell antwortete, daß dieses Risiko durchaus bestünde und daß es auch an den Bürgern läge sich für Europa stark zu machen, um einen Zerfall Europas im Zuge der Erweiterungen zu verhindern. Europa muß nicht nur eine Seele bekommen, sondern eben auch in den Seelen der europäischen Bürger befestigt werden. Es muß – um ein letztes Mal Churchill zu bemühen – eben auch ein „empire of the mind“ werden (so der britische Premierminister am 3. September 1943 in Harvard).
Die Europa-Vorlesungen an der Humboldt-Universität zu Berlin leisten Beiträge dazu, daß Europa auch ein „empire of the mind“ wird und wir freuen uns, daß heute nun der Präsident des Europäischen Parlamentes dazu seinen Beitrag leistet. Seien Sie uns sehr, sehr herzlich willkommen!