Abschiedsvorlesung von Erich Thies
Kann man, verehrter, lieber Herr Thies, jemanden aus realiter
aus einem Amt verabschieden, daß er überhaupt nur virtualiter
besetzt hat? Am 23. Juni 1992 hat der Senator Manfred Ehrhardt seinen
Staatssekretär Erich Thies auf eine Professur für Philosophie und
Pädagogik im damaligen Fachbereich Erziehungswissenschaften dieser
Universität berufen und im Berufungsschreiben formaliter darauf
hingewiesen, daß die eigenen Mitarbeiter für Rückfragen und Gespräche
zur Verfügung stehen – Telefonnummer 3032-393 oder 343, vermutlich
waren diese Nummern ohnehin eingespeichert im Thies’schen Telefon in
der Senatsverwaltung. Die Verhandlungen wurden von beiden Seiten mit
Energie, Präzision und Tempo geführt –der Ruf datiert, wie gesagt, auf
den 23. Juni 1992, Ihre Rufannahme auf den 9. Dezember 1993, die
Ernennung auf den 29. Dezember 1993, nachdem im Monat Dezember noch
allerlei hektische Aktivitäten im Blick auf das Landesbeamtengesetz des
Landes Berlin erforderlich wurden und die rechtzeitige Ernennung vielen
bereits unmöglich schien.
60 Blatt Schriftverkehr und anderthalb Jahre Verhandlungen – da bleibt einem natürlich das Wort virtualiter im Halse stecken. Formaliter, ja gewiß und realiter eben auch, Universitätspräsidentin, Kanzler, Sekretärinnen, Personalkommission, Referatsleiter, Dekan und so weiter und so fort. Und alle Verhandlungen waren ja nicht zum Schein oder gar zum Scherz geführt worden. Am 7. Juni 1995 schrieb der Kanzler mit leicht besorgtem Unterton an die Senatsverwaltung: „Herr Professor Thies hat wegen seiner Tätigkeit als Staatssekretär im Einvernehmen aller Beteiligten bisher den Dienst nicht angetreten. … Auf der anderen Seite kann nicht ausgeschlossen werden, daß nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus im Oktober dieses Jahres eine Situation eintritt, die zu einem raschen Dienstantritt von Herrn Professor Thies an der Humboldt-Universität führen könnte“. Der offenbar hüben wie drüben befürchtete, vielleicht auch erhoffte Fall trat nicht ein, trat auch nicht ein, als Erich Thies 1998 als Staatssekretär in Berlin ausschied und kurzzeitig hier im Hause horribile dictu erwogen wurde, ihn zu entlassen und seines Professorentitels zu berauben, eine Idee, die glücklicherweise rasch vom Tisch gewischt wurde.
„Als ehemaliger Planungsbeauftragter für den Fachbereich Erziehungswissenschaften und kommissarischer Dekan dieses Fachbereichs fühle ich mich mit der Humboldt-Universität zu Berlin nach wie vor besonders verbunden und möchte diese Nähe auch künftig aufrechterhalten“ – so, lieber Herr Thies, haben Sie beim Antritt Ihrer Aufgabe in der Kultusministerkonferenz Ihre Bitte begründet, weiter beurlaubter Professor dieser Universität zu bleiben. Und nicht nur hat der damalige Dekan der dem Fachbereich nachfolgenden Fakultät, Kollege Tenorth, diese Begründung einleuchtend genannt – nein, ich kann als Präsident dieser Universität bezeugen, daß Sie diese Nähe nie nur virtualiter oder formaliter ausgeübt haben – nein, ich und viele andere hier im Hause konnten Sie um Rat fragen und haben ihn stets prompt, zuverlässig und von hoher sachlicher Qualität erhalten. Lange nach der Zeit, in der Sie im Zuge einer „Aufbauhilfe im Beitrittsgebiet“ von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg an die Humboldt-Universität abgeordnet wurden, April 1991ff., lange nach Ihrem so eindrücklichen Berufungsvorschlag für ein ganzes neues erziehungswissenschaftliches Institut vom 12. Juli 1991, nein, auch gerade in den nicht einfachen letzten vier, fünf Jahren – von dieser Ihrer hilfreichen Nähe können manche hier im Saal dankbare Kunde geben. Und diese tätige Nähe, lieber Herr Thies, allein verdient es, daß Ihnen diese Universität zum definitiven Ende Ihrer Professur eine feierliche Abschiedszeremonie organisiert und die betreffende Urkunde nicht einfach auf dem Postwege zustellt.
„Für Ihre Tätigkeit“, so schließt einer meiner Vorgänger sein Beurlaubungsschreiben, „wünsche ich Ihnen Befriedigung und viel Erfolg, den das deutsche Bildungswesen bitter nötig hat“; ein überraschend informeller Gruß am Ende eines ganz und gar formalen Schreibens. Dahinter wollte ich nicht zurückstehen; Erfolg war Ihnen in beiden Tätigkeiten, für die diese Universität Sie beurlaubt hat, reichlich vergönnt und diese Alma Mater hat von ihrem Erfolg profitiert, realiter, nicht nur virtualiter. Entsprechend ungern verabschieden wir Sie aus der Professur; die Lektüre der Akten macht Appetit, mit Ihnen demnächst Verhandlungen über eine virtuelle Seniorprofessur zu beginnen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies
Präsident
der Humboldt-Universität