Rede von HU-Präsident Markschies anläßlich der Ehrenpromotion von Marcel Reich-Ranicki
Prof. Dr. Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität zu
Berlin
Grußwort anläßlich der Ehrenpromotion von Marcel Reich-Ranicki
Es gilt das gesprochene Wort
„Unendliche Wehmut und ungeheuere Ironie“, Herr Staatsminister, Frau
Senatorin, Herr Senator, Exzellenzen, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, meine Damen und Herren und natürlich und insbesondere
verehrter, lieber Herr Wapnewski und verehrter, lieber Herr
Reich-Ranicki – „Unendliche Wehmut und ungeheuere Ironie“ lautete das
Motto des 1827 gegründeten literarischen Vereins „Tunnel über der
Spree“; das „Tunnelarchiv“ zählt zum kostbaren Altbestand unserer
Universitätsbibliothek. Im Sommer 1843, als Vierundzwanzigjähriger,
wurde der Apothekergehilfe Theodor Fontane in diese ehrenwerte
Gesellschaft eingeführt, die Geibel reichlich respektlos als
„Kleindichterbewahranstalt“ apostrophierte und fand unter dem
Tunnelpublikum allerlei wichtige Gesprächspartner. Gleichwohl schreibt
er in „Von Zwanzig bis Dreißig“ ziemlich respektlos: „Der Tunnel,
soviel ich an ihm nachzurüh-men habe, war doch an vielen Sonntagen
nichts weiter als ein Rauch- und Kaffeesalon, darin, während Kellner
auf und ab gingen, etwas Beliebiges vorgelesen wurde. War es eine
Schreckensballade, darin Darnley in die Luft flog oder Maria Stuart
enthauptet wurde, so ging die Sache, setzte sich aber ein
Liebeslieddichter hin, um mit seiner vielleicht pimprigen Stimme zwei
kleine Strophen vorzulesen, so traf es nicht selten ein, daß der
Vorlesende mit seinem Liede schon wieder zu Ende war, ehe noch der
Kaffeekellner auf das ihm eingehändigte Viergroschenstück sein
schlechtes Zweigroschenstück … herausgegeben hatte“.
Der Kirchenhistoriker im Präsidentenamt ist kein Germanist und so
interessiert ihn heute vormittag natürlich nicht der „Tunnel über der
Spree“ und eigentlich auch nicht Fontane, sondern jenes Motto des
literarischen Vereins, dem er lange Jahre mit wechselnder Intensität
angehörte: „Unendliche Wehmut und ungeheuere Ironie“. Taugt das Motto
des Vereins auch als Leitspruch für den heutigen Festakt? Ganz gewiß
droht „unendliche Wehmut“, wenn man an das „Wunder Berlin“ denkt, jene
lebendige Metropole des Jahres 1929, in die der Schüler Marcel
Reich-Ranicki geschickt wurde und die er so einfühlsam in seinen
Erinnerungen portraitiert. Zirkus Sarrasani auf dem Tempelhofer Feld,
der Doktor Knick vom Werner von Siemens-Realgymnasium und das Gebäude,
„das mir“, so Reich-Ranicki, „das teuerste in Berlin wurde und bis
heute geblieben ist“ – Schinkels Schauspielhaus am Gendarmenmarkt,
Jürgen Fehling, Gustaf Gründgens, Werner Krauss, Emil Jannings.
„Unendliche Wehmut“: Die Hülle des Schauspielhauses steht noch, aber
das darin befindliche preußische Staatstheater hat kurz vor Toresschluß
die SS angezündet und nach einem ästhetisch nicht sehr überzeugenden
Innenausbau der achtziger Jahre nennt man das Ganze jetzt
„Konzerthaus“, um die Touristen nicht zu verwirren. „Unendliche Wehmut“
aber auch über dieses Haus, ebenfalls zerstört und im Inneren
ästhetisch nicht sehr überzeugend wiederaufgebaut. Der Student schreibt
am 10. März 1938: „Ich bitte um Aufnahme als ordentlicher Student an
die Philosophische Fakultät“. Die Universität lehnt auf Weisung der
Zentralstelle für das Studium der Ausländer in Preußen unter Datum vom
7. April 1938 ab und im Gespräch mit dem Abgelehnten nimmt der Rektor,
der brandenburgische Landeshistoriker Willy Hoppe, zu den üblichen
Ausreden Zuflucht. Unendliche Wehmut darüber, daß diese Universität des
Mittelpunktes, ein Ort von Wahrheit und Freiheit, sich den deutschen
Diktaturen so bedenkenlos, so umfassend auslieferte. „Zeit ist Balsam
und Friedensstifter“ heißt es bei Fontane und manche haben gefragt, ob
der Ehrendoktor Wiedergutmachung sei. Aber an dieser Stelle darf kein
Balsam auf die Wunden gestreut werden und kein falscher Friede
proklamiert werden; viel zu bedroht sind Wahrheit und Freiheit in der
Wissenschaft, als daß man die braunen und roten Jahre für einen
Betriebsunfall der alma mater Berolinensis ausgeben dürfte. Und wieder
gut machen, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann man erst recht
nichts. Historische Schuld ist keine Bankschuld, die durch ein paar
Taler Wohlverhalten getilgt werden kann – der Kirchenhistoriker
erinnert an die gescheiterte Ökonomisierung der Sündenlehre im
Mittelalter, der Zeithistoriker an den überaus törichten Satz aus dem
jüngsten Historikerstreit, daß dreißig Jahre Wohlverhalten in der
Demokratie doch wohl die Problematik der Volkstumsthesen bestimmter
Königsberger und Posener Historiker getilgt hätten. Nein, getilgt
werden kann nichts von dem, was damals geschah und vergessen darf erst
recht nichts davon. Und indem wir hier in diesem Hause erinnern und
dabei nicht nur an die Galerie der Nobelpreisträger denken, setzten wir
ein Zeichen dafür, daß wir uns der Verantwortung für die schreckliche
Zeit bewußt sind und daher auch wissen, worin unsere Verantwortung
heute besteht.
Also: Ja, gewiß, „unendliche Wehmut“. Aber auch „ungeheuere Ironie“?
Ja, hoffentlich auch das. Wenn nämlich der heutige Festakt verhindert,
daß wir uns wohlgefällig darin beruhigen, daß nun nach so vielen Jahren
ein ungerechterweise abgelehnter Student sein Examensdiplom
nachgereicht bekommt und nun alles gut geworden ist. „Ungeheuere
Ironie“ kommt dann auf, wenn wir heute, so wie das der Berliner Student
Sören Kierkegaard kritisch gegen Hegel postulierte, mit Hilfe der
Ironie eine feierliche Erstarrung vermeiden und uns der ständigen
Bedrohung von Wahrheit und Freiheit in der Wissenschaft bewußt bleiben.
Ich muß freilich heute das von Jean Paul und Heinrich Heine geforderte
Ausrufzeichen zur Markierung von ironischen Wendungen nicht setzen;
Peter Wapnewski, der uns dankenswerterweise die Laudatio halten wird,
und Marcel Reich-Ranicki selbst sind solche Meister der Ironie, sind
ein Gestalt gewordener point d’ironie.
Also bleiben wir doch, verehrte Damen und Herren, beim „Tunnel über
der Spree“ und, das muß ich wohl kaum ausführen, bei Fontane, bei
Fontanes Wehmut und Ironie. Theodor Storm, zeitweilig ebenfalls ein
Teil des Tunnelpublikums, beklagte in einem Brief an seinen
Namensvetter Fontane aus dem Jahre 1853, daß in Berlin im ganzen „die
goldene Rücksichtslosigkeit“ fehle, die allein den Menschen innerlich
frei macht und die nach seiner Ansicht das letzte und höchste Resultat
jeder Bildung sein muß. Sie haben, verehrter, lieber Herr
Reich-Ranicki, einst an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität die
durch das Blech von Dienstmarken und Koppelschlössern repräsentierte
menschenverachtende Rücksichtslosigkeit eines totalitären Systems
erleben müssen und leben uns allen jene ganz andere, aufgeklärte
„goldene Rücksichtslosigkeit“ des Kritikers vor, der auch noch über das
schlechteste Buch goldene Worte zu formulieren vermag, die belehren und
erfreuen. Daß Sie die Ihnen angetragene Ehrendoktorwürde angenommen
haben und dieses von seiner Geschichte gezeichnete Haus nach so vielen
Jahren wieder betreten haben, daß Peter Wapnewski nach langen Jahren an
der Freien und der Technischen Universität nun auch die unsrige mit
goldenen Worten ziert, bewegt uns sehr. „So voller Lust, so voller
Dank“.